Die große Kammer des Menschenrechtsgerichts des Europarats in Straßburg beschäftigte sich ein Jahr lang mit dem Fall aus Österreich.

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Straßburg/Wien – Mit zehn zu sieben Stimmen hat die große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag keinen Menschenrechtsverstoß beim Vorgehen der österreichischen Behörden im Fall jenes achtjährigen Buben festgestellt, der am 25. Mai 2012 von seinem Vater mittels eines Vorwands aus dem Klassenzimmer geholt und von diesem im Umkleideraum einer St. Pöltner Volksschule mittels Kopfschuss getötet wurde.

Die Republik habe das Recht auf Leben des Kindes nicht gebrochen, denn Polizei und Gerichte hätten im Vorfeld das von ihnen Verlangte und Mögliche unternommen, um die Lage unter Kontrolle zu halten, befand das Richterkollegium.

Damit bestätigte der größte und wichtigste Senat des EGMR das Urteil einer seiner kleinen Kammern im Jahr 2019. Damals wurde der Fall vor dem europäischen Menschenrechtsgericht erstverhandelt, der Senat hatte sich großteils der Gegenäußerung der österreichischen Bundesregierung angeschlossen.

Massive Gewalt

Den Verstoß gegen das Recht auf Leben des Buben laut Artikel zwei der Europäischen Menschenrechtskonvention hatte die Mutter des Kindes eingeklagt. Als Argumente brachten sie und ihre Wiener Anwältin Sonja Aziz die jahrelange Gewaltausübung des Ex-Mannes und Kindesvaters, E. K., sowie die akute Bedrohungslage und sich zuspitzende Gewalt in den Tagen vor dem Mord vor.

Drei Tage vor der Tat hatte die Frau die Scheidung von ihrem 37-jährigen Mann eingereicht, daraufhin hatte er sie und die Kinder – den damals Achtjährigen und seine damals siebenjährige Schwester, die die Tat mitanschauen musste, aber flüchten konnte – mehrfach mit dem Umbringen bedroht. Die an den drei sichtbaren Spuren seiner Gewalttätigkeiten hatte die Polizei noch protokolliert.

"Sorgfalt an den Tag gelegt"

Den offiziellen Stellen sei kein Vorwurf zu machen, befand nun eine Mehrheit der Straßburger Menschenrechtsrichterinnen und -richter: "Die Behörden haben die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt, indem sie rasch auf die Vorwürfe der Klägerin reagierten, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein", heißt es in dem Urteil.

Auch hätten Polizei und Gericht "ordnungsgemäß" gehandelt und eine "autonome, proaktive und umfassende Risikoeinschätzung" durchgeführt, die zu einer Wegweisung des Mannes laut Gewaltschutzgesetz führte. Akute Lebensgefahr für den Buben sei vor der Tat nicht erkennbar gewesen.

Anwältin sieht Positives

Anwältin Aziz zeigt sich dennoch nicht enttäuscht: "In diesem Einzelfall hat die Mehrheit der Richterinnen und Richter keine Verletzung der EMRK gesehen. Aber das Höchstgericht hat sich ein Jahr lang ausführlich mit der Materie beschäftigt und grundsätzliche Festlegungen für den Umgang mit schwerer Gewalt getroffen. Etwa die Pflicht, eine umfassende Risikobewertung durchzuführen, die speziell die Tötungsgefahr einschätzt."

Auch die Reaktion aus dem Innenministerium in Wien ist verhalten: "Auch wenn der EGMR im vorliegenden Fall keine Konventionsverletzung festgestellt hat, arbeitet Österreich an einer stetigen Verbesserung des Gewaltschutzes", heißt es in einer Aussendung. Die jüngste Häufung von Frauenmorden zeige, "dass wir auch in Zukunft stark gefordert bleiben, die Präventionsarbeit und den Opferschutz weiter zu verbessern".

Dissenting Opinions

Sieben der 17 Senatsmitglieder – eine starke Minderheit – teilten die Mehrheitsmeinung nicht. Die Todesgefahr für den Buben sei durchaus wahrnehmbar gewesen – "oder hätte vielmehr wahrgenommen werden müssen", so man das spezifische Risiko für die Kinder präziser untersucht hätte, was unbedingt notwendig gewesen wäre. Das schreiben sie in den dem Urteil angefügten Dissenting Opinions (abweichenden Meinungen).

Zu kritisieren sei zudem, dass die Schule über die bestehende Gefahr nicht informiert worden war. Ein Verstoß der Republik gegen das Recht auf Leben sei ihres Erachtens durchaus gegeben.

Das meinte auch die spanische Richterin Maria Elòsegui, die in ihrer Dissenting Opinion konkret die Nichtbeachtung der sozialen Lage der Familie vor der Tat durch den Senat kritisiert. "So, wie es dasteht, gibt das Urteil die Stellungnahme der österreichischen Bundesregierung wieder", schreibt sie zudem. (Irene Brickner, 15.6.2021)