Wer Soziales und Gesundheit zusammendenkt, vermeidet auch Folgekosten, sagt der Sozialexperte Martin Schenk.

Bild nicht mehr verfügbar.

Was machen Not, Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse mit den Menschen? Bei Gesundheit gilt es auch den sozioökonomischen Faktor zu beachten.
Foto: Getty Images

Als die Titanic den Eisberg rammte und sank, waren die Chancen für die Passagiere zu überleben sehr ungleich verteilt. Von den an Bord befindlichen Personen überlebte ein Drittel. Die Überlebenschancen richteten sich nach Klassengrenzen – je nachdem, welche Kabine man sich leisten konnte. Von den Passagieren der ersten Klasse haben neunzig Prozent der Frauen überlebt, in der dritten Klasse nur fünfzig Prozent. Die Ungleichheit vor dem Tod ist nicht mit der Titanic versunken, sondern aktueller denn je. Gesundheits- und Lebenschancen haben mit dem sozialen Status zu tun, damit, auf welchem Deck Menschen leben, lieben, arbeiten, sich bewegen.

Viele forderten in den letzten Wochen die Teilung der zwei Ministerien, Gesundheit und Soziales. Aber genau das Gegenteil wäre jetzt angesagt. Gerade die Corona-Krise liefert zahlreiche Hinweise dafür, Gesundheit und Soziales stärker zu integrieren.

"Es gab nie einen Lockdown. Es gab nur Leute aus der Mittelschicht, die sich versteckten, während Leute aus der Arbeiterklasse ihnen Sachen brachten." So tönt es aus London, wo unter allen Berufen auf den Corona-Sterbetafeln am öftesten "Hilfsarbeiter" stand. Corona trifft die ökonomisch Ärmsten am Arbeitsmarkt, in Familien, als prekäre Ich-AGs oder chronisch Kranke. Je geringer das Einkommen, desto weniger findet Arbeit im Homeoffice statt. Überbelegtes Wohnen, niedrige Einkommen und schlechte Jobs kommen da zusammen. Unter Schlafstörungen leiden zurzeit Arbeitslose, Jugendliche in beengten Wohnungen und Menschen mit geringem Einkommen am stärksten.

"Wenn ich mit der Straßenbahn vom ärmsten Wiener Gemeindebezirk in den reichsten fahre, dann liegen dazwischen einige Minuten an Fahrzeit, aber auch sechs Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung."

Der sozioökonomische Faktor ist bei Gesundheit, Infektionsrisiko und Lebenserwartung mächtig. Arme Raucher sterben früher als reiche. Wenn ich mit der Straßenbahn vom ärmsten Wiener Gemeindebezirk, Fünfhaus, in den reichsten – nach Hietzing – fahre, dann liegen dazwischen einige Minuten an Fahrzeit, aber auch sechs Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung. Die Klimakrise trifft auch nicht alle gleich. Fast 4000 Hitzetote hatten wir die letzten Jahre – vor allem bei älteren Menschen und in Vierteln mit geringem Einkommen.

Was krank macht

Der Arzt und Gesundheitswissenschafter Michael Marmot: "Wir untersuchten alle Risikofaktoren, die mit dem Lebensstil zu tun haben: das Rauchen, den Cholesterinspiegel, der mit einer fettigen Ernährung zusammenhängt, die sitzende Lebensweise mit wenig Bewegung. Sie alle zusammengenommen erklären zwischen einem Viertel und einem Drittel des Unterschieds in der Lebenserwartung. Nicht mehr." Leben am Limit macht Stress, schwächt die Abwehrkräfte und das Immunsystem, macht verletzlich. Finanzielle Not, Arbeitslosigkeit oder schlechte Wohnverhältnisse machen krank. Eine feuchte Wohnung kann töten – die Verhältnisse gehen echt unter die Haut. Wir haben bis heute in Österreich übrigens keine Daten zum sozioökonomischen Hintergrund der Corona-Toten und -Erkrankten – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern.

Das österreichische Sozialstaatsmodell trennt traditionell in "Cure" und "Care", ins Medizinische und ins Soziale. Wird im Krankenhaus noch auf hohem Niveau für uns gesorgt, sind wir, gelten wir als "austherapiert", oft auf uns allein gestellt oder werden im Alter zum Fall für die Sozialhilfe. Das erleben viele chronisch Kranke und Pflegebedürftige. Die Trennung zwischen dem ärztlichen Cure-Bereich und dem sozialpflegerischen Care-Sektor führt zu einander in Finanzierung und Organisation gegenüberstehenden Systemen. Was fehlt, ist "die Koordination und Integration von Gesundheits- und Sozialsystem, die Entwicklung eines eigenen Profils des Systems Langzeitpflege", analysierte Kai Leichsenring vom Europäischen Zentrum für Sozialforschung bereits vor zwanzig Jahren.

Starke Schlagseite

Das kontinentale Sozialstaatsmodell hat eine stark berufsständische Schlagseite: zum Schaden der Entwicklung moderner Berufsbilder und integrierter Angebote. Pflegekräfte machen in Dänemark Pflegeeinstufung, Berufe zwischen Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung sind anderswo leichter möglich, Grätzelarbeit wird selbstverständlicher mit Public Health verknüpft. In dieselbe Richtung gehen sogenannte Präventionsketten gegen Kinderarmut, die sich an den Lebensphasen und Entwicklungsherausforderungen von Kindern orientieren.

In Neuseeland gibt es das Verfahren eines "Health Impact Assessment", also einer Art Gesundheitsverträglichkeitsprüfung. Das ist ein interessantes Instrument, um Soziales und Gesundheit zusammenzudenken. Und Folgekosten zu vermeiden. Die Streichungen bei der Wohnbeihilfe beispielsweise in England führten zu einem zehnprozentigen Anstieg von psychischen Problemen bei Personen aus Niedrigeinkommenshaushalten. Wer die Situation von Mindestsicherungsbeziehern weiter verschlechtert, Arbeitslose statt Arbeitslosigkeit bekämpft, die Chancen im Bildungssystem blockiert oder den prekären Niedriglohnsektor vergrößert, der verschlechtert die Gesundheitssituation im Land. Sozialer Ausgleich ist eine gute Medizin.

"Moving upstreams!"

Nicht mit der Titanic auf hoher See, sondern am sicheren Ufer eines reißenden Flusses steht der Sozialmediziner Irving Zola. "Da höre ich den Hilferuf eines Ertrinkenden", beginnt seine Erzählung. "Ich springe ins Wasser, lege meinen Arm um ihn, ziehe ihn ans Ufer und mache Nasen-Mund-Beatmung. Und dann, gerade als er wieder von selbst zu atmen beginnt, höre ich einen neuen Hilferuf. Also wieder rein in den Fluss, festhalten, hinausziehen, beatmen – und noch ein Hilferuf. Und so geht es weiter ohne Ende in Sicht! Ich bin so beschäftigt, Menschen aus dem Wasser zu ziehen und zu beatmen, dass ich keine Zeit habe, herauszufinden, wer zum Teufel diese ganzen Leute ins Wasser wirft!" Mit dieser Geschichte entwickelte sich der Ruf "Moving upstreams!" – beweg dich stromaufwärts, wo die Krankheiten entstehen! Schau flussaufwärts zur Quelle, wo die Ursachen liegen. (Martin Schenk. 16.6.2021)