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Nach überschaubaren Testspielleistungen glückte Oranje der EM-Auftakt. Damit lässt es sich auch entspannter Rad fahren.

Foto: REUTERS/ VAN DE WOUW

Georginio Wijnaldum hatte im Training diese Woche sichtlich Spaß. Lockeres Ausradeln war für die Niederländer angesagt, und der künftige PSG-Legionär zeigte auf dem Trainingsfeld einen Wheelie, riss also das Vorderrad in die Luft und balancierte nur auf dem Hinterrad. Ja, wenn es läuft, ist man zu Kunststücken aufgelegt.

Und für Oranje ist zumindest der Euro-Auftakt gegen die Ukraine mit einem 3:2-Sieg gut gelaufen, der erste EM-Sieg seit 2008. Der zwischenzeitliche Ausgleich aus dem Nichts für die Osteuropäer war zwar ein Wermutstropfen, aber der späte Siegtreffer in der 85. Minute schmeckte dadurch umso süßer und riss die Heimfans in Amsterdam umso mehr von den Rängen. Solche emotionalen Erfolge säen im Land das zarte Pflänzchen der Euphorie. Und von dieser war vor dem Großereignis nicht viel vorhanden.

Heilsbringer Koeman

Für die EM 2016 und WM 2018 hatte sich Oranje nicht qualifiziert. Ronald Koeman fungierte dann als Heilsbringer: Finale der Nations League, souveräne EM-Quali und, im Land der Tulpen fast noch wichtiger: ansehnlicher Fußball. Oranje war wieder wer – bis Koeman im August 2020 Barcelona-Trainer wurde. Frank de Boer übernahm als Bondscoach.

Dem früheren Innenverteidiger schlug von Anfang an Skepsis entgegen, zu erfolglos waren seine letzten Vereinsstationen, darunter eine 85-tägige Amtszeit bei Inter Mailand und 77 Tage bei Crystal Palace. Daraufhin bezeichnete ihn Jose Mourinho als "schlechtesten Manager der Premier-League-Geschichte". Die vier Meistertitel mit Ajax Amsterdam waren da bereits verblasst.

Blasses Orange

Blasse Oranje-Auftritte unter de Boer nährten Zweifel, die das Team über die letzten Monate verfolgten. Dem Team fehle die offensive Schlagkraft, so der Vorwurf. Nach der WM-Quali-Pleite gegen die Türkei rief die Boulevardzeitung "De Telegraaf" bereits "Alarmstufe 1" aus, schwache Euro-Tests gegen Schottland und Georgien entfachten auch keine Euphorie. Für Ex-Stürmer Pierre van Hooijdonk spielte die Elftal "Fußball wie ein Kind, das zum ersten Mal ohne Stützräder Rad fährt".

Stimmungsmäßig erinnerte Oranje bisweilen an Österreich. Auch hierzulande wird Teamchef Franco Foda dafür kritisiert, nicht das Beste aus dem Potenzial herauszuholen. Wie der ÖFB-Teamchef entschied sich auch de Boer erst im Juni für eine Nummer eins, für Maarten Stekelenburg.

Die Systemfrage

Kernpunkt der Kritik ist aber die Systemfrage, die in den Niederlanden allgegenwärtig ist, sobald ein Bondscoach das heilige 4-3-3 verlässt. De Boer wagte diese Gotteslästerung. Nicht einmal ein Flugzeug, das mit einem "4-3-3"-Banner über den Trainingsplatz flog, vermochte ihn umzustimmen. Die Ajax-Legende glaubt, "dass diese Mannschaft das 5-3-2-System braucht".

Frenkie de Jong amüsieren solche Diskussionen, gestand er nach dem EM-Auftakt. Für den Mittelfeld-Taktgeber kommt es nämlich weniger drauf an, welches System man spiele, sondern darum, wie die Spielfeldbesetzung sei. "Und da haben wir Fortschritte gemacht", sagte der 24-Jährige. Vor allem offensiv wusste Oranje beim Euro-Auftakt zu überzeugen. Sieben Schüsse in den ersten zehn Minuten eines EM-Spiels gelangen in den letzten 40 Jahren keinem einzigen Team. "Das ist es, was wir sehen wollen", sagte de Boer nüchtern nach dem Spiel. Euro-Favoriten seien für ihn Frankreich, Belgien und Spanien. Dahinter folgen andere Kaliber wie etwa Deutschland. Und erst dahinter rangiere die Niederlande. Für den Titel "müsse alles passen", ein Rad sozusagen ins andere greifen.

Habt Vertrauen

Innenverteidiger Daley Blind kann mit der Rolle in der dritten Favoritenreihe durchaus leben. "Ich verstehe, dass wir nicht der Topfavorit sind", sagte der Routinier vor dem Turnier. "Aber ich will euch schon sagen: Leute, habt ein bisschen Vertrauen. Unterschätzt diese niederländische Mannschaft nicht." Auch "De Telegraaf" war nach dem Auftakt besser gelaunt und titelte: "Der Löwe ist los". Na bitte, zumindest ein bissl Euphorie.

Am Donnerstag (21 Uhr) gastiert Österreich in Amsterdam. Dann darf die Foda-Elf herausfinden, ob Oranje eher Stützräder braucht oder zum neuerlichen Wheelie ansetzt. (Andreas Gstaltmeyr, 16.6.2021)