"Das Wiener Becken gehört für mich genauso dazu wie die bosnischen Berge, die Küche der ungarischen Reitervölker genauso wie die Adria. Das klingt vielleicht seltsam, hat aber eine lange Tradition", sagt Max Stiegl, wenn man ihn fragt, was für ihn eigentlich Pannonien ist. Er führt das Haubenlokal Gut Purbach als durch und durch pannonischer Koch.

Max Stiegl, Sautanzpatron, Innereienprovokateur und Chef des Guts Purbach.
Heribert Corn

Bodenständig, authentisch, genial ist das Burgenland für ihn. In seiner Definition beginnt Pannonien zirka in Floridsdorf und endet irgendwo kurz vor Novi Sad. Denn vor sehr langer Zeit war die Gegend rund um sein Restaurant vom Urmeer überflutet. Das Leithagebirge und das Ruster Hügelland ragten als kleine Inselketten hervor. Richtung Osten erstreckte es sich bis nach Rumänien, und im Süden bis tief hinein nach Serbien und Kroatien.

Muschelkalk und Majoran Irgendwann trocknete es aus, und vor zweitausend Jahren eroberten die Römer große Teile des riesigen geografischen Beckens zwischen Alpen, Karpaten und der steilen kroatischen Küste. Wo einst Urfische schwammen und das Muschelkonglomerat die Hänge des Leithabergs formten, gründeten sie ihre neueste Provinz.

Die Pannonier würden das allerkümmerlichste Leben führen, hielt der römische Historiker Cassius Dio damals fest, "da sie weder guten Boden noch günstiges Klima haben und kein Öl, keinen Wein bauen, da den größten Teil des Jahres die grimmigste Kälte bei ihnen herrscht". Na, wie würde der wohl dreinschauen, käme er heute auf die Sonnenseite Österreichs! Hier gedeihen Obst, Wein und Gemüse prächtig. Die Grundzutaten der Arme-Leute-Küche stammten von den Heidebauern, den sogenannten Heanzen: Getreide, Kraut, Kukuruz, also Mais, Umurken, damit sind Gurken gemeint, Grumbirn, Erdäpfel und Zwiebelgewächse wie Porree. Vor allen Bohnen! Der Bohnensterz stärkte in der Früh schon für den harten Arbeitstag. Genauso kräftig, allerdings was das Aroma anbelangt, ist der Majoran. Er drückt den Speisen seinen Stempel auf, und nicht umsonst liest man in Stiegls Buch Mein Pannonien: "Verwenden Sie mehr Majoran! Vertrauen Sie mir. Sie werden überrascht sein."

Der österreichische Gault-Millau kürte Max Stiegl zum Koch des Jahres 2021 – für uns kreiert er das Jahrhundertmenü.


Heribert Corn

Ein burgenländisches Jahrhundertmenü könnte wahrscheinlich hundert Gänge haben. Was also kochen? – "Was typisch Krawodisches!", ruft der Wirt, als er den kroatischen Bohneneintopf mit geselchten Ripperln auf den Tisch knallt. "Das ist ein Eintopf. Das isst man immer!", sagt er und streckt dem, der gerade am nächsten ist, den Löffel in den Mund. "Die Bohnen sind reichhaltig und geben Energie her. Außerdem werden sie überall konsumiert. Süß, sauer, als Püree und gebacken ..."

Ponzichter-Storys "Die Weinbauern haben früher Bohnen zwischen den Weinstöcken angebaut – angeblich mussten sie so keine Steuern bezahlen, fix ist aber auch, dass die Leguminosen Stickstoff binden – ein perfekter Dünger!", weiß Franz Weninger, Landwirt und Winzer im mittelburgenländischen Horitschon. Dass das den deutschsprachigen Winzern im damaligen Westungarn den Namen Beinamen "Ponzichter" (Bohnenzüchter) einbrachte, nimmt er heute zum Anlass, eine Rotweincuveé so zu benennen. Wie die Hülsenfrucht selbst ranken sich auch die Mythen, Bauernregeln und Sprüche um die Bohne. Der Atlas der burgenländischen Volkskunde widmet dem Stupfen, also dem Einpflanzen, sogar ein eigenes Kapitel. Der richtige Zeitpunkt ist rund um den Eisheiligen Pankrats, der umgangssprachlich "Paungrots" genannt wird. Das Wort "Paun" bedeutet auch Bohne. Paungrots lesen also manche als Motto: "Bohnen, geratets!"

Die Liebe wandert, die Liebe bleibt

"Was einst unter Wasser stand und die Römer dann eroberten, ist heute noch meine kulinarische Heimat", sagt Stiegl, der im slowenischen Koper geboren und gleich nebenan in Piran aufgewachsen ist. "Ich kam der Liebe wegen her, die Liebe wanderte, aber die Liebe zum Burgenland blieb. Es ist einfach wunderschön", schwärmt der Koch. Er sehe das Burgenland als eine Boutique, etwas ganz Besonderes. "Mehrere anerkannte Volksgruppen auf engstem Raum, und das Ganze ohne irgendwelche Probleme", sagt er fasziniert.

Die Küche des Burgenlands ist legendär, nicht umsonst gibt es hier die höchste Dichte an Haubenlokalen in Österreich.

Im heißen Seewinkel wächst hervorragendes Gemüse. Die ungarischen Paprika sind sowieso weltberühmt. Neben dem Gulyás, Eintöpfen und Suppen der Reitervölker aus der Ebene finden sich Schmorgerichte aus dem Sač, der Tajine des Balkans. Für Max Stiegl verbindet die kulinarische Landschaft hier alles, was ihm wichtig ist: den Balkan und das Burgenland. "Auf dem Balkan wurde ich geboren, in einem Land, das damals Jugoslawien hieß, im Burgenland habe ich meinen Michelinstern erkocht, mein erstes eigenes Wirtshaus eröffnet und meine Familie gegründet. Von hier kommen die Produkte, die Rezepte und die Kochtechniken, die ich liebe und die mich inspirieren."

Jüdisches Penicillin Der Erstkontakt liegt übrigens schon 22 Jahre zurück. Als 19-Jähriger kommt Željko Rašković nach Rust. Er trägt schon seinen Künstlernamen und erkocht im Inamera bald den ersten Stern. Sein 1997 eröffnetes Gut Purbach will er nicht gern auf den traditionellen Sautanz und die Innereienküche reduziert wissen.

"Wir sind ein ganz klassisches pannonisches Wirtshaus", betont er. Was es da gibt? Nun, Rezepte aus den unterschiedlichen Volksgruppen, etwa Jüdisches Penicillin, das man im großen, alten "Sacher-Kochbuch" als "Hühnerbouillon" bezeichnet findet und wieder woanders einfach als "Geflügelfond". Jedenfalls ist die Suppe in ihrer Urform ein echter Klassiker. "Die kochen wir ein, bis sie geliert", erklärt Stiegl. Er öffnet hastig das Einmachglas und probiert die wabbelige Masse, die aussieht wie Bratlfett und ordentlich nach Umami schmeckt. Die Brühe muss sehr langsam ziehen, damit sich das Aroma entwickeln kann. Wer mit zu hohen Temperaturen arbeitet, zerstört, was er erschafft. Im Rückenmark des Hendls sollen sich nämlich entzündungshemmende Stoffe befinden.

Am nachhaltigsten beeinflusst hat das heutige Burgenland vermutlich die ungarische Küche. Wie selbstverständlich bestellt man den Zander auch als Fogos. Dazu passt natürlich Letscho, aber auch das Paradeiskraut, das im Gut Purbach zu den Grammelknöderln serviert wird. Den Fisch schiebt der Küchenchef im Ganzen in den Ofen. Selbiges gilt für den Schweinebauch.

Apropos: Das weite, recht flache Land bietet Lebensraum für jede Menge köstlicher Tiere. Die Gans als kulinarisches Wappentier ehrt man besonders rund um den Landesheiligen, zu Martini. Das beinahe vergessene Steppenrind grast seit 1995 wieder im Nationalpark Neusiedler See. Dort fühlt sich auch das fette Wollschwein wohl. "Es gibt großartige Schwarz-Weiß-Fotos aus dem späten 19. Jahrhundert, auf denen Bauern stolz neben ihren monströsen Mangalitzaschweinen stehen", schildert Stiegl. "Manche davon reichen den Männern bis zu den Hüften, sie sind breit wie ein Pferd und haben einen wilden, struppigen Pelz, fast wie ein borstiges Schaf."

Weil wir auch die Küche der Roma-Sinti auf unserer Tafel haben wollen, sucht das Gut-Purbach-Team ein Rezept für den würzigen Erdäpfelstrudel "Bangorengeri riteschkija". Majoran, der im Burgenland eben eine Hauptrolle im Gewürzregister spielt, würde dazu passen. Die Würze kommt allerdings vom Knoblauch, verrät der Koch. In den kupfernen Kännchen wartet kein türkischer Kaffee, sondern die dazugehörige Schnittlauchsoße.

Somlauer Nockerl

Bei den Mehlspeisen hat man im Burgenland wahrlich die Qual der Wahl. Zu jedem Dorf gehören die eigenen "Mehlspeisbäckerinnen". Jede Dame in der Runde schwört auf ihre speziellen Rezepte – von den Burgenländer Kipferln bis zur Esterházy-Schnitte. Als Max Stiegl sein Restaurant eröffnete, war ihm schnell klar: Gegen eine solche Konkurrenz bestehen, das ist schwer. "Wir haben uns daher mit einigen der Mehlspeisbäckerinnen verbündet, anstatt zu versuchen, sie zu übertreffen." So manches Gut-Purbach-Dessert etwa geht auf die ursprüngliche Betreiberin des Hauses, die Strudelwirtin Paula Brunecker, zurück. Die Purbacher Cremeschnitte nach ihrem Rezept ist ein Gedicht.

Paradeiskraut, Letscho – Max Stiegl verdelt im Gut Purbach vermeintlich Gewöhnliches.
Heribert Corn

Warum die Römer ihre neue Provinz "Pannonien" nannten, ist übrigens nicht ganz sicher. Stiegl meint vermutlich den besagten Cassius Dio, wenn er in seinem Buch Mein Pannonien schreibt: "Ein römischer Historiker – ich habe vergessen, wie er heißt, aber es ist auch egal – hat geschrieben, das Wort kommt vom lateinischen Vokabel für ‚Lappen‘ oder ‚Fetzen‘, und macht sich quasi über die armselige Kleidung der Pannonier lustig."

Dem Gastronomen gefällt aber eine andere Variante besser: Manche Forscher würden "Pannonien" von einem Wort, das Sumpf, Wasser oder Nass bedeutete, herleiten, weiß er. In Gedanken wahrscheinlich schon beim (Ur-)Meer. Oder zumindest am Neusiedler See ... (Juliane Fischer, Leben im Burgenland, 20.6.2021)

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