Es ist erstaunlich, welche Faszination auch heute noch von der altsteinzeitlichen Figur der Venus von Willendorf ausgeht. Das Ergebnis ist nicht das Bild, das Archäologen und Archäologinnen von ihrem Stellenwert bei den altsteinzeitlichen Menschen zu rekonstruieren versuchen. Sie ist nicht nur ein Relikt aus längst vergangener Zeit, sie ruft Emotionen hervor und berührt jeden auf unterschiedliche Weise.

Eine Frau aus der Eiszeit

Die Venus von Willendorf ist etwa 29.500 Jahre alt und heute die wohl bekannteste Frauenfigur der Altsteinzeit. Sie ist aus oolithischem Kalkstein mit Feuersteinwerkzeugen hergestellt. Die elf Zentimeter hohe, ursprünglich mit roter Farbe bemalte Figur zeigt eine beleibte unbekleidete Frau mit starken Hüften, vorstehendem Bauch und großen Brüsten. Auf schwachen Schultern sitzt ein verhältnismäßig großer Kopf. Ober- und Unterschenkel sind naturnah gebildet, aber verkürzt. Die dünnen Arme liegen über der Brust. Füße und Gesicht sind nicht dargestellt. Um den leicht vorgeneigten Kopf befindet sich eine Frisur aus parallelen Lockenreihen oder eine Kopfbedeckung. Im Zentrum der Darstellung sind jedoch Brust, Bauch und die detailliert dargestellten Geschlechtsmerkmale.

War die Deutung der Figur ursprünglich auf die weibliche Fruchtbarkeit konzentriert, so gibt es heute wesentlich umfassendere Erklärungsmodelle. Figuren von Frankreich bis Russland sind in ihrer Gestalt und Körperhaltung in vielen Details ähnlich. Wir nehmen an, dass sie die Vorstellung eines weiblichen Wesens widerspiegeln, das für die altsteinzeitlichen Menschen in ganz Europa mit Mythen und Legenden verbunden war. Die Venus von Willendorf ist eine sehr realistische Darstellung einer wohl reifen Frau, die neben der Fähigkeit Kinder zu gebären eine Ahnfrau, einen weiblichen Schutzgeist oder den Ursprung des Lebens dargestellt haben könnte. Über ihren genauen Stellenwert im Denken der eiszeitlichen Jäger und Sammler können wir aber nur Vermutungen anstellen.

Josef Szombathy, Leiter der Anthropologisch-Prähistorischen Sammlung des Naturhistorischen Hofmuseums, mit dem besonderen Fund.
Foto: Prähistorische Abteilung NHM Wien

Die Ursprünglichkeit als Inspiration

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Kuratorin der Venus von Willendorf hat mich die Vielfalt persönlicher Zugänge zu dieser Figur verwirrt. Heute bin ich davon überzeugt, dass gerade dies das Außergewöhnliche und neben der wissenschaftlichen Fragestellung das Spannendste an ihr ist. In einer Zeit, die in vielerlei Hinsicht nach dem Ursprünglichen, dem, was uns von Natur aus eigen ist, sucht, stellt sie den unverfälschten Ausdruck menschlicher Empfindungen aus einer Zeit dar, in der noch nichts durch Zivilisationseinflüsse verfremdet war. Sie stammt aus jenen Urzeiten, wo noch alles ursprünglich und echt war.

Ich habe Menschen erlebt, denen nach inständigen Bitten erlaubt wurde, mit der Fingerspitze auf sie zu tippen, und die danach verklärt waren, als hätten sie ein Wohlgefallen ganz anderer Art erfahren. Kindern wurde verboten, die Figur im Museum zu besichtigen, mit dem Hinweis: So was schauen wir uns nicht an. Ein Bub hat sich geweigert, den dunklen Raum mit der Venus zu betreten, weil er die Figur für eine Hexe hielt. Viele verehren sie auch heute wie ihren Schutzgeist. Für mich als Wissenschafterin bietet sie noch immer neue Ansätze der Untersuchung. Persönlich erlebe ich immer wieder, dass die Venus von Willendorf liebevoll verehrt wird. Die Ausstrahlung der Figur inspiriert die Menschen auf vielerlei Arten mit Ausnahme der Uninspirierten, die sie nur als erotisches Gadget betrachten.

Die Venus von Willendorf mit einem Tagebucheintrag von der Ausgrabung.
Foto: W. Antl-Weiser, Geschichte des Weinviertels (Ur- u. Frühgeschichte)

Göttin und Fruchtbarkeitssymbol?

Die überaus große Popularität der Venus von Willendorf, besonders in Amerika, erklärt sich aus der Symbolik, die von Feministinnengruppen und sogenannten "Pagan Religions" mit ihr in Verbindung gebracht wird. Hier finden wir die Venus von Willendorf als Abbild der großen Erdmutter, die in einer Linie mit den jungsteinzeitlichen Idolen und den frühen Fruchtbarkeitsgöttinnen – Demeter, Istar – bis zur Jungfrau Maria gesehen wird. Als Symbolfigur der "Pagan Religions" kommt daher die Venus von Willendorf auch auf der Homepage der Religionsgeschichte Amerikas vor.

Es wird in Briefen an diese Vereinigungen von Hausaltären berichtet, an denen eine Nachbildung der Venus von Willendorf verehrt wird. Frauengruppen bieten Ratsuchenden als Hilfe gegen Unfruchtbarkeit Amulette mit dem Reliefbild der Venus von Willendorf an: "Carry with you symbols of fertility and abundance, which could be as fancy as a brass pendant of the Venus of Willendorf" oder: "Fertility fetishes are pretty common. Venus of Willendorf is one of the oldest and most pagan stores carry pendants with that image embossed on it."

Die Venus wird von vielen Menschen verehrt.
Foto: W. Antl-Weiser, Geschichte des Weinviertels (Ur- u. Frühgeschichte)

Die Venus als Rolemodel und Fashionikone

Die Venus wird von vielen verschiedenen Gruppen als Symbol für unterschiedlichste Inhalte verwendet: Der "Willendorf – Award" wird seit 1980 für medizinische Studien zur Fettleibigkeit vergeben. Aufgrund ihrer großen Brüste war sie auch Symbolbild für die österreichische Brustkrebsforschung. Viele übergewichtige Frauen betrachten die Venus von Willendorf als Trost und Ermutigung. Sie können sich aufgrund der harmonischen Darstellung der Figur auch wieder als schön empfinden. Aus diesem Grund ist sie Symbolfigur des Big Beautiful Women and Fat Admirers-Ringes. Der Trend der Bodypositivity wurde auch in der neuesten Modelinie von Zalando mit einer Kollektion für Frauen mit mehr Rundungen aufgenommen.

Die "Willendorf-Pages" bezeichnen die Websites einer sozialen Organisation, die ebenfalls die Venus von Willendorf als Symbol verwendet. In der Begründung für die Benennung der Seiten steht: "The Venus of Willendorf is an affirmation of the resilience of women's spirits, the strength of women's bodies, and the glory of women's ability to birth and sustain life."

Insgesamt gibt es mehrere tausend Websites unter dem Schlagwort "Willendorf", unter denen sich einige wenige wissenschaftliche Abhandlungen, viele populäre Darstellungen in kunsthistorischen Übersichten, nicht gerade wenige künstlerische Verarbeitungen, zahllose Nachbildung aller Arten, einige humoristische Beiträge aber auch etwas obskure Betrachtungen befinden.

Viele Facetten der Venus in der Kunst

Die Venus von Willendorf gehört weltweit zu den bekanntesten Kunstwerken und ist auch international in fast allen Werken zur prähistorischen Kunst sowie in zahllosen Schulbüchern zu finden. In Künstlerkreisen ist sie noch immer eine Quelle der Inspiration.

Wenn bei einer Artist-in-Residence-Aktion in Krems von der amerikanischen Künstlerin Kate Just unter Beteiligung der Bevölkerung die Figur der Venus von Willendorf aus Wolle gestrickt hat, so war das mehr als eine nette Gemeinschaftsaktion. Es steht symbolhaft dafür, dass wir uns heute unser jeweiliges Bild von ihr "stricken".

Die Vertreter der frühen Moderne haben sich von der altsteinzeitlichen Kunst – den Höhlenmalereien und den Frauenfiguren – anregen lassen. Für sie war es der Ausdruck der ursprünglichen und unverfälschten menschlichen Kunst. Al Hansen, ein Vertreter der Fluxus-Kunst, hat sich bei seinen zu Frauenfiguren komponierten Zigarettenstummelbildern von der Venus von Willendorf inspirieren lassen. Jeff Koons hat mit seiner Ballon-Venus ein weiteres modernes Zitat der Figur geliefert.

Die Venus als Seife und aus Marzipan.
Foto: Prähistorische Abteilung NHM Wien
Ausstellung von Al Hansen im Naturhistorischen Museum Wien.
Foto: K. Kracher/NHM Wien

Neben modernen künstlerischen Umsetzungen und Zitaten der Figur selbst, gibt es auch Gedichte, Theaterstücke, Filme und sogar Computerspiele, in denen sie symbolhaft verwendet wird. In Österreich war die Venus von Willendorf 1989 das Logo der Kulturvereinigung "Willendorf" im Rahmen einer Frauenkulturwoche. In Gestalt der Venus von Willendorf werden aber auch Seifen, Kerzenständer, Kerzen, Hinterglasbilder, Mandalas, Amulette, et cetera angeboten. Geworben wird außerdem mit handgenähten Venusfiguren, die mit Schaumstoff ausgestopft sind.

Aus dem wichtigsten Fundstück der Grabung Willendorf 1908 ist eine Ikone geworden, die im Original betrachtet noch immer ehrfürchtige Schauer hervorruft. Bei ihrer Vitrine im Naturhistorischen Museum in Wien werden immer wieder kleine Gaben – Amulette, Schafgarbe et cetera – niedergelegt, die von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der prähistorischen Abteilung wieder eingesammelt werden. Zu welchen weiteren Werken, Gedanken und Deutungen sie die Menschen in der Zukunft anregen wird, bleibt abzuwarten. (Walpurga Antl-Weiser, Fiona Poppenwimmer, 17.6.2021)