Rechtsanwalt Alfred J. Noll schreibt in seinem Gastkommentar über das gerade präsentierte Antikorruptionsvolksbegehren. Sein Befund: "Nicht an Anstand und Moral fehlt es, es fehlt an politischer Gegenmacht."

Beginnen wir am Anfang: Als Bürgerinnen und Bürger einer politischen Gesellschaft haben wir die Verfügung über (fast) all ihre Kräfte in die Hände der öffentlichen Gewalt gelegt. Dies aber doch mit der Maßgabe, dass diese öffentliche Gewalt nicht gegen ihre Mitbürger über das vom Gesetz zugelassene Maß hinaus angewendet werden soll; und den Geboten von Rechtsstaat und parlamentarischer Demokratie entsprechend haben wir uns deshalb die Möglichkeit zurückbehalten, gut oder schlecht über die Herrschenden zu denken, Beifall oder Missfallen zu äußeren.

Justitia im Blick: Am Dienstag wurde ein Volksbegehren für Rechtsstaatlichkeit und Antikorruption präsentiert. Erste Unterstützungserklärungen können wohl in ein bis zwei Wochen abgegeben werden.
Foto: Fischer

Das Volksbegehren ist hier eindeutig: Es drückt Missfallen aus, es spricht schlecht über die Herrschenden. Es bringt zum Ausdruck, was viele in diesem Land denken, was für viele sichtbar ist und was viele ändern wollen. Aber der Gedanke allein genügt nicht, das bloße Anstarren ändert nichts, und der Wille allein führt nicht zu einer besseren Welt. Es ist also gut, dass etwas unternommen wird – sei es auch nur in der Form eines Volksbegehrens, das letztlich bloß zur "Beratung" im Nationalrat führen wird und solcherart schon als entsorgt gelten darf, bevor es dort noch angekommen ist.

Bitteres Lob

Man kann die jetzt in die Form eines Volksbegehrens gegen Korruption gekleideten bürgerlichen Anstandsbitten an unsere Regierenden aus mehrerlei Perspektiven betrachten. Verweigert man sich den eingespielten Sortierungsreflexen, dann wird man deshalb zwar rasch und unschwer zu lobenden Worten finden und den Autorinnen und Autoren fleißig Aureolen flechten, aber es ist gleichwohl ein bitteres Lob: Ja, natürlich sind die Anliegen des Volksbegehrens berechtigt. Kein Mensch kann etwas gegen die damit zur Forderung erhobenen Anliegen haben. Es war daher zu erwarten, dass alle im Parlament vertretenen Parteien voll dahinterstehen! Klar doch: Auch Herr Kurz hat seine volle Unterstützung zugesagt.

Wenn sie aber doch ohnedies alle dafür sind, warum schaut unsere Wirklichkeit dann ganz anders aus?

Das Volksbegehren krankt daran, wie übrigens alle Forderungen Wohlmeinender, dass seine auf Moral und persönliche Einsicht der Mächtigen setzenden Mahnungen den Herrschenden links und rechts an den in Slim-Fit-Anzüge gepressten Gesäßen vorbeigehen werden. Es mangelt denen allen nicht an Einsichtsfähigkeit, sondern an einer dementsprechenden Handlungs- und auch Enthaltungsbereitschaft. Nicht an Anstand und Moral fehlt es, es fehlt an politischer Gegenmacht.

Ja, natürlich sind die Anliegen des Volksbegehrens berechtigt. Es war daher zu erwarten, dass alle im Parlament vertretenen Parteien voll dahinterstehen!

Wir wollen nicht annehmen, dass den Initiatoren des Volksbegehrens dieser Umstand völlig unbekannt wäre. Dennoch verleitet sie das gänzliche Absehen von der politischen Machtfrage dazu, den Missständen mitunter nicht mehr entgegensetzen zu können als ein paar wohlfeile Formeln:

Eine verstärkte Gewaltentrennung wird gefordert, so als ob nicht schon der französische Staatstheoretiker Baron de Montesquieu gewusst hätte, dass es im Staat doch viel eher um kluge Gewaltenverbindung gehen muss. Die Einhaltung höchstgerichtlicher Entscheidungen wird gefordert, so als ob es nicht schon jetzt durch die Ministeranklage ein Instrument gäbe, genau darauf hinzuwirken. Die völlige Unabhängigkeit der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wird gefordert, so als ob es nicht tatsächlich ein reales Problem wäre, die Justiz von jeglicher Kontrolle auszunehmen. Ein effektives Informationsfreiheitsgesetz wird gefordert, so als ob es nicht seit Jahr und Tag entsprechende Entwürfe gäbe. Werbebeschränkungen für die Informationsarbeit der Bundesministerien werden gefordert, so als ob der Boulevard sich nicht notfalls auch nach niedrigeren Budgets strecken würde.

Wir sehen uns einem System gegenüber, das unentwegt die schlechtesten Instinkte und müdesten Späße zu entfesseln vermag, um diese dann in eine ausschließlich für unsere Systemverwalter vorteilhafte Bahn zu lenken. Ein nüchterner Blick auf unsere Wirklichkeit lehrt uns, dass wir uns in einer Situation befinden, in der schon jetzt Gesetz und Moral alle jene Handlungen verbieten, die von der Begründung des Volksbegehrens zu Recht aufs Korn genommen werden – die aber dennoch von diesem System stets notwendig wieder und wieder produziert werden. Gewiss darf man auf die bereinigende oder gar läuternde Wirkung eines allgemeinen Moralappells setzen; und darauf zu hoffen ist gewiss ehrbar. Den Missständen freilich, denen hier abgehütet werden soll, ist damit nicht recht beizukommen.

Glätten, was Falten hat

Von Thomas Hobbes stammt die Mahnung, dass die Menschen stets von einem "perpetual and restless desire of power after power" bestimmt würden. Und Montesquieu belehrt uns auch, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben werde, sie zu missbrauchen – und zwar immer weiter, bis er an Grenzen stoße. Na, so meinte Immanuel Kant, dann müsse man eben Staatseinrichtungen schaffen, die selbst einem Volk von Teufeln gemäß wären. Das Volksbegehren tut so, als ob wir diese Staatseinrichtungen schon hätten.

Das Volksbegehren zielt auf die Verwerfungen der politischen Oberfläche. Es will glätten, was Falten hat. Das Problem liegt aber nicht im mangelnden Glanz unseres politischen Körpers, sondern an der zunehmenden Krüppelhaftigkeit des Körpers selbst. Gewiss sind die Initiatoren allesamt von ehrbarsten Ansichten getragen, wenn sie – dem Sinne nach – Sümpfe und saure Wiesen trockenlegen wollen, wie einst Bundespräsident Rudolf Kirchschläger postulierte. Wir alle wissen ja vom Österreichkenner Friedrich Hebbel: "Man kann es verhüten, dass Sümpfe entstehen. Aber man kann es nicht verhüten, dass Krokodile in den Sümpfen entstehen." Wie einst Pezi im Kasperltheater packt das Volksbegehren nun den Knüppel aus, um den Krokodilen eins überzuziehen – der Sumpf aber bleibt, und der Krokodile müssen wir uns also vorderhand weiter erwehren. (Alfred J. Noll, 17.6.2021)