Nicht immer kehrt nach einem Freispruch Ruhe ein – sogar dann, wenn es durchaus Gründe für ihn gab. Das für Österreich erfreuliche Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Tod eines achtjährigen Buben im Jahr 2012, der von seinem gegen Frau und Kinder seit Jahren gewalttätigen Vater aus der Klasse geholt und erschossen wurde, ist ein solcher Fall.

Zwar stellten die hohen Richterinnen und Richter keinen Verstoß gegen das Recht auf Leben des Buben fest: In den Tagen vor der Tat hätten Polizei und Gerichte das ihnen Mögliche getan. Das bestehende Risiko sei bewertet, ein Betretungsverbot gegen den Mann ausgesprochen worden, befanden sie mehrheitlich. Die Zuspitzung sei nicht vorhersehbar gewesen.

Damit aber ließen sie eine zentrale Frage unbeantwortet: Hätte man nicht doch mehr unternehmen können, um den Tod des Kindes durch die Hand des Vaters zu verhindern? Anders ausgedrückt: Was müsste in Österreich geändert werden, um Prognosen in derlei Gewaltfällen künftig mit größerer Sicherheit zu treffen? Das 92-Seiten-Urteil beschäftigt sich detailliert mit den Anforderungen an eine zeitgemäße Risikoeinschätzung, wobei der Infoaustausch eine wichtige Rolle einnimmt. Im vorliegenden Fall klappte das nicht – die Lehrerin des Achtjährigen wusste nichts von der Eskalation. Sie ließ den Buben mit dem Vater gehen. Mehr Vernetzung hätte das verhindert. So betrachtet, ist dieser Wahrspruch kein großer Wurf. (Irene Brickner, 16.6.2021)