Was spricht für ein höheres Arbeitslosengeld, was dagegen? Im Gastkommentar plädiert die Soziologin Irina Vana dafür, und Monika Köppl-Turyna vom Wirtschaftsforschungsinstitut Eco Austria hält dagegen.

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Pro Arbeitslosengeld anheben

Irina Vana

Bei bescheidener Lebensführung braucht ein Singlehaushalt in Österreich für Miete, Strom, Essen, Telefon und Mobilität rund 1.426 Euro im Monat. Arbeitslose haben im Schnitt weniger als 1.000 Euro im Monat zur Verfügung; 36 Prozent der arbeitslosen Haushalte sind von Armut bedroht. Grund ist die auch im internationalen Vergleich geringe Nettoersatzrate von 55 Prozent des letzten Gehalts.

Das Volksbegehren "Arbeitslosengeld rauf!", das seit Anfang Juni zur Unterstützung aufliegt, problematisiert diesen Missstand. Gefordert wird eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf mindestens 70 Prozent und eine entspreche Anpassung der Notstandshilfe sowie die Entschärfung der Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose.

Es soll eine Politik angestoßen werden, die nicht die Arbeitslosen, sondern Arbeitslosigkeit bekämpft – etwa durch öffentliche Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und eine inklusive Arbeitsmarktpolitik.

Schafft keine Jobs

Ein existenzsicherndes Arbeitslosengeld erhält die gesellschaftliche Teilhabe der Arbeitslosen und schützt vor Folgekosten durch Krankheit und psychische Belastungen. Der Erhalt der Kaufkraft von Arbeitslosen trägt auch zur Bewältigung der wirtschaftlichen Krise bei.

Im Mai standen rund 320.000 Arbeitslose etwa 97.600 offenen Stellen gegenüber. Warum also hält sich die Mär, dass der Existenzdruck auf Arbeitslose Arbeitslosigkeit bekämpft?

Ein geringes Arbeitslosengeld schafft keine Jobs. Vielmehr werden Menschen gezwungen, schlechtbezahlte Arbeit anzunehmen. Der Niedriglohnsektor wächst an, und die Phasen der Arbeitslosigkeit häufen sich. Ein höheres Arbeitslosengeld erlaubt es Arbeitslosen hingegen, nach einer passenden Stelle zu suchen, und stärkt damit die Verhandlungsposition aller Lohnabhängigen. Es ist daher ein wichtiges Mittel der Lohnpolitik.

Die Antwort der Regierung auf die Forderung nach einem höheren Arbeitslosengeld ist der Vorschlag eines degressiven Arbeitslosengeldmodells, das nach einem anfangs höheren Bezug absinkt. Ein solches marginalisiert vor allem jene, die schwerer eine Stelle finden. Es bedeutet die Abkehr von dem versicherungsbasierten Regime sozialer Absicherung, das auf den Statuserhalt ausgerichtet ist, und die Hinwendung zu einem Regime der Fürsorge in der Tradition einer Politik, die die Schuld für Arbeitslosigkeit bei den Arbeitslosen verortet.

"Und wer soll das bezahlen?", fragen Unternehmensvertretungen. Zur Erinnerung: Im Jahr 2020 wurden mehr als 18 Milliarden Euro an Unternehmenssubventionen ausbezahlt. Rund 5,5 Milliarden davon flossen in die Kurzarbeit. Der Großteil der Förderungen ging mithin direkt an die Unternehmen. Die Regierung setzte bei den Corona-Hilfen ihre unternehmensfreundliche Politik fort. Jene, die am stärksten unter den Folgen der Pandemie leiden, werden am schwächsten unterstützt. Was wir uns leisten können, ist eine politische Frage und keine Frage der Ressourcen.

Es ist Zeit, die Gelder dort einzusetzen, wo sie zur Armutsbekämpfung gebraucht werden, denn staatliche Unterstützungen dienen nicht der Sicherung privater Profite. Die dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes ist ein Schritt in die richtige Richtung. (Irina Vana)

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Kontra Arbeitslosengeld anheben

Monika Köppl-Turyna

Anfang Juni wurde das Volksbegehren für ein höheres Arbeitslosengeld gestartet. Konkret soll die Ersatzrate von derzeit 55 Prozent auf 70 Prozent des Letzteinkommens angehoben werden. Argumentiert wird damit, dass man so den OECD-Schnitt erreicht. Es wird auch kritisch über das degressive Modell berichtet, bei dem das Arbeitslosengeld mit der Zeit absinkt. Als Argument wird vorgebracht, dass man mit niedrigerem Arbeitslosengeld in "schlechte" Jobs gezwungen wird. Aus meiner Sicht wird hier mit Halbwahrheiten und teilweise unfundierten Behauptungen argumentiert.

Zwei Halbwahrheiten

Erste Halbwahrheit: Für eine Einzelperson ohne Kinder mit einem Durchschnittslohn beträgt im OECD-Schnitt die sogenannte Nettoersatzrate knapp 60 Prozent (inklusive Sozialhilfe und Wohnbeihilfeleistungen). Für Personen mit zwei Drittel des Durchschnittseinkommens sind es tatsächlich knapp 70 Prozent, wobei auch Österreich hier bei 60 Prozent liegt. Viel wichtiger ist dennoch, dass in praktisch allen Ländern diese Ersatzraten schnell sinken und nur für die ersten sechs Monate gelten. Im zwölften Monat liegt die Ersatzrate für Durchschnittsverdiener bei 45 Prozent, für Niedrigverdiener bei 54 Prozent. In Österreich allerdings höher bei 51 Prozent beziehungsweise 58 Prozent. Die Ersatzraten sinken weiter, um nach fünf Jahren bei 33 Prozent zu landen, während es in Österreich weiterhin 51 Prozent sind. Es zeigt sich also – das wird oft verschwiegen –, dass praktisch alle OECD-Länder ein unpopuläres "degressives" Modell anwenden.

Zweite Halbwahrheit: Man wird zum Ergreifen schlechtbezahlter Jobs gedrängt. Diese Aussage stimmt der überwiegenden Mehrheit wissenschaftlicher Literatur zufolge nicht. Die Mehrheit der Studien berichtet, dass die Länge des Bezugs von Arbeitslosengeld keine Auswirkungen auf die Qualität des nächsten Jobs hat. Einige berichten sogar von einem negativen Zusammenhang: je länger die Arbeitslosigkeit, desto niedriger der Lohn. Eine Ausnahme bildet eine Studie aus Österreich, die zeigt, dass ein um neun Wochen längerer Bezug von Arbeitslosengeld zu einem um 0,5 Prozent höheren Gehalt führt. Dieselbe Studie erklärt aber auch den scheinbaren Widerspruch: Eine längere Arbeitslosigkeit führt möglicherweise zu einem besseren "Match", also einer hohen Übereinstimmung von Anforderung und Qualifikation sowie zu einem höheren Lohn. Die Dauer der Arbeitslosigkeit kann aber auch zu einer Abwertung der Qualifikation und zur Stigmatisierung beitragen, was den künftigen Lohn wiederum sinken ließe.

Mehr Anreize

Bei dem degressiven Modell wurde ein niedrigerer Lohn allerdings auch nicht bestätigt. Studien, die die Einführung des degressiven Arbeitslosengeldes unter der sozialdemokratischen Regierung in Ungarn analysieren, kommen zu dem Schluss, dass die Dauer der Nichtbeschäftigung im Schnitt um zwei Wochen sank, während die Wiederbeschäftigungslöhne um 1,4 Prozent stiegen. Sie zeigen weiters, dass eine kürzere Dauer der Arbeitslosigkeit eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes am Anfang der Arbeitslosigkeit kostenneutral ausgleichen kann. Womit man doch zwei Ziele erreichen kann: höheres Arbeitslosengeld am Anfang der Arbeitslosigkeit – wie von dem Volksbegehren angestoßen – und mehr Anreize, schneller Jobs anzunehmen. (Monika Köppl-Turyna, 18.6.2021)