Geisterbeschwörung mit Anklängen an die Klerikalgeschichte: Sofia Jernberg begeistert als Diseuse mit Bischofsquaste in "Pierrot lunaire".

Nurith Wagner-Strauss

Der Auftritt der Sängerin macht Eindruck. Sofia Jernberg trägt ein purpurnes Birett mit Quaste auf dem Kopf, wie wir es unter anderem von katholischen Bischöfen kennen, außerdem einen schwarz-violetten Umhang und eine Kranken-, Verzeihung, Gesundheitskassen-Krücke.

In diesem Aufzug trägt die Schwedin äthiopischer Abstammung als "Diseuse" des Abends die Geschichte des Pierrot lunaire vor. Das allerdings anders, als sich’s Arnold Schönberg 1912 für seine Komposition gleichen Titels vorstellte. Immerhin stammt wie bei dieser auch hier der Text aus Otto Erich Hartlebens 1892 publizierter Übertragung von Albert Girauds "Pierrot lunaire"-Dichtung ins Deutsche.

Für die zeitgenössische Umsetzung, die aktuell als Uraufführung bei den Festwochen zu sehen ist, hat ein höllisch gutes Team zusammengefunden: Mit Jernberg sind das die auf den Kapverden geborene Choreografin Marlene Monteiro Freitas und das Klangforum Wien unter der Leitung von Ingo Metzmacher. In ihrer gemeinsamen "Séance" werden nicht nur die Geister des Pierrot und der Colombine beschworen, sondern auch jene der europäischen Klerikalgeschichte.

Versenkter Spott

Die Mitglieder des Klangforums tragen Kostüme – blaue priesterliche Kollarhemden –, und zwar verkehrt herum. Als Bühne dient ein von allen vier Seiten mit Sitzreihen umstelltes Podest, über das an dünnen Seilen ein schwerer Himmel hängt. So niedrig, dass die Bischöfin sich bücken muss, um zu ihrem Sitz in der Podestmitte zu gelangen. Mit ihrer Krücke betätigt Jernberg einen Mechanismus, der diesen Himmel, der auch an eine Grabplatte erinnert, hochfahren lässt.

Was, um Gottes willen, hat der Pierrot mit der Kirche zu tun? Also, allzu tief muss man nicht ins Glas des Hartleben’schen Wortweins schauen, um den da hineinversenkten Spott zu finden. Dieser wird von Sofia Jernbergs anbetungswürdiger Performance – von Babyhusten bis zum Schielen ihrer weit aufgerissenen Augen – dick unterstrichen.

"Der Dichter, den die Andacht treibt, / Berauscht sich an dem heil’gen Tranke, / Gen Himmel wendet er verzückt / Das Haupt ..." So jenseitig und ironisch, wie Jernberg es praktiziert, kann man das singen. Vor allem zur Begleitung der Darstellerinnen-Musiker des von Freitas perfekt instruierten Klangforums, die ihren Schönberg derart gekonnt aus dem Gleis springen lassen, dass einem die dabei entstehende Zerlegung ganz normal vorkommt.

Schamanistisches Ritual

Schon zu Beginn des Stücks wird auf einem Metallwagen wie aus der Prosektur eine Klaviatur antransportiert und dann in den ins Bühnenpodest eingepassten Bösendorfer-Holzsarg versenkt, sodass ein echter Flügel daraus wird. Dazu passt der Vers aus einer späteren Passage: "Blut’ge Tropfen alten Ruhmes / Schlummern in den Totenschreinen."

Während des Pierrot lunaire der Marlene Monteiro Freitas gerät ständig alles aus den Fugen, wahrt aber doch seine Form. Deswegen wirkt das Stück wie ein politisches oder schamanistisches Ritual: Kontrollierte Exzesse dienen oft dem Erhalt der Ordnung – wobei man sich dessen bei den Aufführungen der Politik nie sicher sein kann. Klar scheint jedenfalls, dass Freitas die Metapher des Politischen im Gewand des Sakralen vorführt.

Daher ist es kaum als direkte Anspielung auf die politische Farbpalette zu verstehen, wenn sich Pierrot – der übrigens nie direkt auftritt – in den mit "Rote Messe" übertitelten Versen zum Altar begibt: "Mit segnender Gebärde / Zeigt er den bangen Seelen / Die triefend rote Hostie: / Sein Herz – in blut’gen Fingern!" Selten werden die Zeichen der Gegenwart so gelungen und gewitzt in Neuerarbeitungen historischer Werke verwoben wie in dieser kongenialen Zusammenarbeit brillanter Kunstschaffender.

(Helmut Ploebst, 18.6.2021)