Wähnt sich Marine Le Pen bereits im Präsidentenpalast? "Nicht berühren", herrscht sie im Kühlraum einen Begleiter an. Dann zu einem Journalisten: "Schließen Sie die Tür hinter sich!"

Allerdings sind wir nicht in Paris, und schon gar nicht im gold- und plüschverzierten Élysée. Hier ist tiefste Normandie, und in dem Nest namens Nesle-Hodeng riecht es leicht säuerlich nach Rohmilch. Marine Le Pen nimmt an einer Laborführung teil und hätte an sich nichts zu bestimmen. Der Käser Eric Alleaume führt durch seine Produktion von Neufchâtel, einer der vier Normandie-Käsesorten neben Camembert, Livarot und Pont-l’Évêque.

Und doch sagt die blonde Politikerin mit der tiefen Stimme, wo’s langgeht. "Allez les filles" (los, ihr Mädchen), sagt sie im Stall zur Milchkuh 1395. Die schreckt vor der Populistin zurück. Zum Glück schleckt 1392 doch noch ihre Hand. Aufatmen in Le Pens Team – schließlich filmen die Kameras der Lokalmedien die Szene.

Schwung und Schlappe

Am kommenden Sonntag ist in Frankreich der erste Durchgang der Regional- und Departementswahlen. Die Anführerin des Rassemblement National (RN) ist gekommen, um den Listenführer ihrer Partei zu unterstützen. Nicolas Bay liegt in den Umfragen bei knapp 30 Prozent und will eine Woche später zum Vorsteher der Region Normandie gewählt werden. Andernorts ist es ähnlich.

Marine Le Pen gibt auch im Kühlraum den Ton an.
Foto: Brändle

Vor allem in der Region der Côte d’Azur und Provence, aber auch im industriellen Norden könnten die RN-Vertreter erstmals überhaupt einen Regionalrat erobern. Das würde Le Pen für ihre Präsidentschaftspläne im nächsten Jahr Schwung verleihen. Ihr Gegenspieler, Emmanuel Macron, muss hingegen mangels lokaler Verwurzelung seiner Partei La République en Marche (LRM) mit einer Schlappe bei den Regionalwahlen rechnen. Die moderate, bukolische Normandie (3,3 Millionen Einwohner) im Griff der Rechten?

Das Spiel der Demokratie

Marine Le Pen findet das normal: "Wir sind die einzige wirkliche Opposition zum amtierenden Präsidenten, denn die Konservativen und Sozialisten gehen ortsweise sogar Listenverbindungen mit seiner Partei ein", sagt die 52-Jährige nach dem Käsereibesuch dem STANDARD. "Und es gehört nun einmal zum Spiel der Demokratie, dass sich Regierung und Opposition an der Macht ablösen, nicht wahr?" Das meint sie vor allem in Bezug auf die Präsidentschaftswahlen von 2022. In den Umfragen dafür liegt Le Pen heute nahezu gleichauf mit Macron, nachdem sie im ersten Duell von 2017 noch klar mit 33,9 Prozent unterlegen war. Seither hat sich ihr Diskurs geändert: Hier auf dem Bauernhof verliert die großgewachsene Frau kein Wort über ihre Hauptthemen Immigration und Kriminalität. Lieber kritisiert sie die Windparks entlang der schönen Normandie-Küste.

Vom "Frexit", dem Austritt ihres Landes aus der EU oder zumindest dem Euro, ist sie abgekommen. Dafür will sie die Agrarpolitik der EU nach Frankreich zurückholen, also "renationalisieren", wie sie sagt. Doch würden Frankreichs Bauern dadurch nicht verlieren? Schließlich ist Frankreich heute der mit Abstand größte Nettoempfänger europäischer Agrarsubventionen. Darauf hat die RN-Chefin keine klare Antwort: Dann müsse eben Frankreich in die Lücke springen, sagt sie ausweichend.

Le Pen in Bedrängnis

Bei der anschließenden Pressekonferenz wollen die Lokalmedien aber etwas anderes wissen: Wie kann sich der RN als Verteidiger der französischen Landwirte aufspielen, wenn sich sein Listenführer in der ländlichen Region Jura-Burgund, ein gewisser Julien Odoul, zugleich über die Selbstmorde überschuldeter Kleinbauern lustig macht? Laut einem zufällig laufenden Aufnahmegerät scherzte der umstrittene RN-Mann: "War wenigstens der Strick französisch?" Le Pen versucht sich nun herauszuwinden, der Spruch habe nicht verzweifelten Landwirten gegolten, sondern radikalen Tierschützern.

"Marine hat hier nur noch Freunde": Früher hätte Le Pen Proteste generiert, heute kann sie ungestört wahlkämpfen.
Foto: AFP / Jean-Christophe Verhaegen

Eine andere Journalistin erkundigt sich nach den diversen Rassisten auf den RN-Regionallisten. Eine bezeichnete die Juden als Diebe, einer fabulierte über "Hitlers angebliche Gaskammern". Le Pen deklamiert kategorisch, Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie hätten bei ihr nichts zu suchen. Beide Bewerber seien sofort aus der Partei ausgeschlossen worden.

"Ich bin stärker geworden"

Das trifft zu. Die Präsidentschaftsanwärterin duldet keine Verbalexzesse mehr. Sie gibt sich betont staatstragend, persönlich geläutert. In Interviews spricht sie am liebsten über ihre drei Kinder und zwei Katzen, die sie allein aufziehe. Auf dem Bauernhof zitiert sie Schopenhauer und räumt Fehler ein. Damit meint sie ihr ebenso entscheidendes wie verpatztes TV-Duell im Wahlkampf 2017. "Man lernt aus der Erfahrung", sinniert sie. "Ich bin stärker geworden, abgehärteter."

Die Blößen ihrer Wirtschaftspolitik, die Macron in dem Streitgespräch offenlegte, hat sie allerdings nicht ausgemerzt. Sie wirft dem amtierenden Präsidenten in einem Zug vor, er sei "ultraliberal" und lasse zugleich die horrende Staatsschuld aus dem Ruder laufen.

Nichts gegen niemanden

Überzeugt Le Pen damit neue Wähler? Nicht einmal Gastgeber Alleaume lässt sich in die Karten blicken: Er sei angefragt worden, ob er Le Pen durch seinen Betrieb führen könne, und habe Ja gesagt. Das sei alles, sagt er lapidar, um anzufügen: "Ich habe nichts gegen niemanden." Diesen chiffrierten Satz hört man neuerdings öfter. Meist von Leuten, die bereit sind, erstmals Le Pen zu wählen – bereit zur Wachablösung im Élysée.

Noch etwas fällt in Nesle-Hodeng auf, als die Veranstaltung zu Ende geht. Vor wenigen Jahren hätte Le Pens Anwesenheit in der Normandie zu Protest- und Gegendemonstrationen geführt. Jetzt lümmeln die RN-Bodyguards gelangweilt vor der Zufahrt zum Bauernhof herum. Kein Feind in Sicht? Einer mit Sonnenbrille und großem Bizeps, aber ohne Schutzmaske schüttelt den Kopf: "Sehen Sie nicht? Marine hat hier nur noch Freunde." (Stefan Brändle aus Nesle-Hodeng, 18.6.2021)