Beim Absturz der Mottarone-Seilbahn sind an Pfingsten 14 Menschen getötet worden.

Foto: EPA/TINO ROMANO

Das Video war von den Überwachungskameras in der Bergstation der Mottarone-Seilbahn aufgezeichnet worden. Es zeigt die letzten 59 Sekunden im Leben der 14 Passagiere: Die weiß-rote Gondel nähert sich der Bergstation, verlangsamt sich auf Schritttempo – und wenige Meter vor dem Ziel passiert es: Das Zugseil reißt. Durch den plötzlich fehlenden Zug bewegt sich das Fahrgestell der Kabine ruckartig in Richtung Tal; die Gondel selber schwingt nach oben, fast in die Vertikale, dann rast sie ungebremst und immer schneller werdend talwärts. Beim ersten Stützpfeiler wird sie – bereits über 100 km/h schnell – aus dem Tragseil geschleudert und stürzt in die Tiefe. Die Aufprallstelle befindet sich nicht mehr im Blickfeld der Kamera.

Die Bilder sind der pure Horror – dennoch haben praktisch alle italienischen Medien das Video am Mittwoch veröffentlicht. Den Anfang gemacht hat das dritte Programm des Staatssenders RAI; die anderen öffentlich-rechtlichen und privaten Sender zogen nach, und auch die Printmedien stellten das Video auf ihre Internetportale. Die Aufnahmen sind gestochen scharf; im Hintergrund ist das hellgrüne Frühlingslaub der Bäume und, tief unten, der Lago Maggiore zu sehen. Die meisten Medien – aber nicht alle – haben die gut erkennbaren Gesichter der todgeweihten Passagiere verpixelt. Dem Video wurde in der Regel der Hinweis vorangestellt, dass "die Bilder die Sensibilität der Zuschauer verletzen könnten".

Vorwurf des Voyeurismus

Das haben sie auch: In zahlreichen Kommentaren empörten sich TV-Zuschauer und Leserinnen über die Veröffentlichung des Todesvideos. Damit werde, so der Tenor, auf zynische Weise die Sensationsgier und der Voyeurismus des Publikums bedient. Hart ins Gericht mit den Medien ging auch die Staatsanwältin von Verbania, Olimpia Bossi: "Die Veröffentlichung des Videos ist absolut unangebracht und außerdem potenziell rechtswidrig", erklärte Bossi. Sie hatte nach dem Unglück drei Seilbahnverantwortliche verhaften lassen: Ihnen wird vorgeworfen, mutwillig die Notbremsen außer Betrieb gesetzt zu haben, um eine Betriebsunterbrechung der Bahn zu vermeiden, die eine Reparatur der Bremsen unweigerlich zur Folge gehabt hätte.

Das Video befand sich seit längerem in den Ermittlungsakten und war auch den Anwälten der Angeklagten und der Privatkläger zugänglich. Wer es an RAI 3 durchgestochen hat, ist unbekannt. Die italienischen Medien rechtfertigen die Veröffentlichung mit ihrem Informationsauftrag: "Die Bilder sagen mehr als tausend Worte und belegen außerdem, dass das Unglück mit funktionierenden Notbremsen vermieden worden wäre", schrieb die Turiner Zeitung "La Stampa" am Donnerstag.

Diese Begründung ist freilich mehr als fadenscheinig: Der Erkenntnisgewinn für das Publikum aus dem Video ist gleich null; über den Ablauf und die Ursachen des Seilbahnabsturzes haben die Behörden ausführlich informiert, und es bestanden diesbezüglich keinerlei Zweifel oder Fragen mehr, die durch die Publikation des Videos eventuell noch hätten ausgeräumt werden können.

Konkurrenz zu sozialen Netzwerken

Der Vorfall belegt, wie sich die ethischen Grenzen des Journalismus, nicht nur in Italien und nicht nur bei den sogenannten Boulevardmedien, immer weiter verschieben: hin zur größtmöglichen Emotionalisierung. Die traditionellen Medien – viele von ihnen befinden sich im wirtschaftlichen Überlebenskampf – stehen in Konkurrenz zu sozialen Netzwerken und Internetplattformen, auf denen selbst die menschenverachtendsten Inhalte frei zugänglich sind.

Das Todesvideo hätte also seinen Weg ins Internet und damit an ein Millionenpublikum auch ohne die Publikation durch die italienischen Medien gefunden. Rechtfertigt dies die Publikation? Die Antwort dazu liefert etwa Artikel 1 im deutschen Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt auch in Zeiten des Internets, das keine Regeln kennt. Mit dem Video ist die Menschenwürde der Opfer und ihrer Angehörigen auf krasse Weise verletzt worden. (Dominik Straub aus Rom, 18.6.2021)