Wolfgang Kos, "Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft". 35,– Euro / 384 Seiten. Residenz, Salzburg/Wien 2021

Cover: Residenz-Verlag

Das Naheverhältnis zwischen Wolfgang Kos und dem Semmering reicht weit in die Vergangenheit zurück. Der bekannte Kulturhistoriker, Radiojournalist und ehemalige Langzeitdirektor des Wien-Museums hat neben Büchern über Zeitgeschichte, Kunst und Popkultur zahlreiche Arbeiten zur Landschaftswahrnehmung publiziert (besonders gerne auch am Beispiel des Semmering) und 1992 eine NÖ- Landesausstellung zum Thema gestaltet. Nun fügt er dieser Beziehungsgeschichte ein weiteres Kapitel hinzu.

Sein im Residenz-Verlag erschienenes Opus Der Semmering beschreibt die vom Schriftsteller Peter Altenberg einst lapidar "Hoch-Wien" genannte Gebirgsgegend als eine "exzentrische Landschaft", wobei die Definition von Exzentrizität, für die sich Kos entscheidet, etwas "auf übertriebene Art Ungewöhnliches" meint.

Tatsächlich beweist seine Darstellung der vielen "Anachronismen, Extravaganzen und Kuriositäten", die die touristische Erschließungsgeschichte des Semmering begleiten und charakterisieren, dass die Zuweisung der Vokabel "exzentrisch" mit vollem Recht erfolgt.

Opulente Bebilderung

Kos’ faktengespickte Chronik der historischen Ereignisse auf dem Gebirgszug zwischen Niederösterreich und Steiermark ist auch für Kenner der Gegend lesenswert, wozu die opulente Bebilderung des Bandes erheblich beiträgt.

Neben einer nicht alltäglichen Kenntnis des Gegenstandes eignet Kos die Gabe, die Fülle der Fakten auf wohlstrukturierte Weise zu präsentieren. Deren Anordnung erfolgt in einer geschickten Kombination von chronologischen, geografischen und thematischen Aspekten und führt in eine Vorzeit zurück, als der Semmering im allgemeinen Bewusstsein "ein garstig Gebirg" darstellte, das auf einer Handelsfernroute gen Süden penetrant im Wege stand, und keineswegs das nahe Wien gelegene Freizeitparadies, in welchem sich Adel und Hochfinanz, Reiche und Superreiche lustvoll dem hingaben, was der US-Soziologe Thorstein Veblen in einer berühmten Formulierung den "demonstrativen Müßiggang" genannt hat.

Ein Gesamtkunstwerk

Diese Nutzung kam erst in der späten Ringstraßen-Ära um 1880 so richtig in Fahrt, lange nachdem der Eisenbahnfachmann Carl Ritter von Ghega sein Baukunstwerk vollendet hatte, das als erste Hochgebirgseisenbahn der Welt globale Berühmtheit erreichte. Und: Die Semmeringbahn war die Conditio sine qua non für das Entstehen von einem österreichischen Parallel-Zauberberg an einer Location, die zuvor lediglich zwei Eigenheiten besessen hatte: Ödnis und Leere.

Kos schließt sich der Meinung der Kunsthistorikerin Hildegund Amanshauser an, dass es sich bei der Semmeringbahn nicht um eine Agglomeration unterschiedlichster Baulichkeiten, sondern in Wahrheit um ein über 40 Kilometer langes Gesamtkunstwerk handle, das von Gloggnitz bis zum steirischen Mürzzuschlag reicht.

Die über elegant geschwungene Trassen und ästhetisch bezwingende Viadukte hinwegführende Bahnfahrt wurde, so Kos, zu einem vollkommen neuen Schauspiel, das die Passagiere zur hektischen Suche nach idealen Positionen im Zug animierte und die Semmeringbahn zu einem regelrechten "Medienstar" machte: "Die Liebhaber der Strecke lernten, in welchen Kurven man die Rue Klamm erblicken konnte und wo der beste Blick auf Schottwien zu erhaschen war. Oftmalige Wiederholung schien diesem von Vertrautsein getragenen Spiel nichts von seinem Reiz zu nehmen."

Wie intensiv dieser Reiz empfunden wurde, zeigt sich an den Schilderungen von Semmering-Überquerungen durch Schriftsteller wie Peter Rosegger oder Heimito von Doderer.

"Semmering-König"

Eine Heerschar von Künstlern und Bohemiens wie Arthur Schnitzler oder Peter Altenberg mengte sich unter die Hautevolee, häufig Aristokraten oder vermögende jüdische Industrielle, die nach dem Bau von Imponiergebäuden wie dem Südbahnhotel oder dem Panhans ihre passende Infrastruktur gefunden hatten und sich in der melodramatischen Kulissenlandschaft des Semmering temporär oder dauerhaft niederließen.

Einer der Dauerhaften war – Stichwort Exzentrik – der als Politiker und Publizist reich gewordene "Semmering-König" Viktor Silberer. Er betrieb die Ablösung des Ortes Semmering von Breitenstein und realisierte erfolgreich seinen Ehrgeiz, an der höchsten und exponiertesten Stelle ein "Schlössel" zu errichten, in dem wagnerianischer Pomp und ein Faible für altdeutsche Burgbauten eine stilistisch zweifelhafte Liaison eingingen.

In den 1920er-Jahren begann sich abzuzeichnen, dass die ohnehin brüchige Bergidylle von den Zeitläuften nicht verschont bleiben würde. Von 1930 an häufen sich politische Aufmärsche, es kommt zu Pöbeleien und antisemitischen Schmierereien. Ein Drittel der Semmeringer Villen befand sich gemäß Nazi-Diktion in jüdischem Besitz und wurde "arisiert": "Mit der Vertreibung der Juden war der Semmering auf Dauer beschädigt und starb einen seelischen Tod".

Kos beschließt sein Buch mit einem differenzierten Ausblick zur Frage, ob der Semmering in absehbarer Zeit aus seinem einmal tieferen, einmal seichteren Dornröschenschlaf erwachen und ein "Second Life" erleben wird.

Anzeichen hierfür gibt es, etwa den Erwerb des Kurhauses durch den Grazer Hotelier Florian Weitzer, der damit Aufregendes im Schilde führt. Und sich damit von einer diffusen Sommerfrische-Idee abgrenzt, vor deren Erneuerung auch Kos warnt. (Christoph Winder, 20.6.2021)