Der "Ballermann"-Strand auf Mallorca: In den dortigen Exzessen sind karnevaleske und an mittelalterliche Festivitäten gemahnende Aktivitäten zu finden.

Foto: Imago / Chris Emil Janßen

Der Strand, ach. Strand im Sommer, noch mehr ach. Sehnsuchtsland. Dabei war am Anfang weder das Schwärmen noch die Sonne. War nicht das Licht. Am Anfang war – die Furcht. Die Furcht vor der Weite. Die Furcht vor der Tiefe. Die Furcht vor der schier kein Ende nehmen wollenden Dunkelheit, vor der finsteren Nacht in den Abgründen des Meeres, die nur hie und da, wie zufällig, durchzuckt wurden von erschreckendem Phosphoreszieren.

Der erste Eindruck, so der französische Historiker Jules Michelet in Das Meer, einem Buch, das erstmals am 15. Jänner 1861, also mitten im Winter, in den Pariser Buchhandlungen auslag und das er zwischen Teil 13 und Teil 14 seiner siebzehn Bände umfassenden monumentalen Geschichte der Französischen Revolution einschob, der erste Eindruck, den man vom Meer empfange, sei Furcht. Und Schrecken.

Nicht in sublimer Form, nicht Herz und Geist erhebend, wie es die Philosophen des 18. Jahrhunderts beschworen. Sondern handgreiflich, konkret und bedrohlich. "Für alle auf dem Land lebenden Wesen", schrieb Michelet, "ist das Wasser das nicht zu atmende, das erstickende Element schlechthin. Eine zeitlose, schicksalhafte Schranke, die unwiderruflich die beiden Welten voneinander scheidet."

Strand als Übergang

Der Universalhistoriker, Anfang 60, als er seine maritime Monografie schrieb – 30 Jahre zuvor hatte er den Ozean erstmals zusammen mit seiner kleinen Tochter Adèle für sich entdeckt –, kannte das Meer, das war in seinem Fall der Atlantik, nur von der Küste her und von ganz kurzen Segelfahrten die Küste entlang.

Denn die Küste war sicher. Das Meer war es nicht. Und das Dazwischen, der Strand, war nur Übergang. Den Strand schätzten damals nur jene Seefahrer, deren Schiffe an Klippen gescheitert waren und die glücklich überlebt hatten.

Die in Leipzig und Amsterdam lebende Bettina Baltschev, Literaturkritikerin, Mitarbeiterin des Mitteldeutschen Rundfunks und seit dem Herbst 2020 Geschäftsführerin des Sächsischen Literaturrates, flaniert nun über Strände "am Rande der Glückseligkeit", in den Niederlanden (Scheveningen), Großbritannien (Brighton), Belgien (Ostende) und Frankreich (Utah Beach), in Deutschland (Hiddensee), Italien (Ischia), Spanien (Benidorm) und auf der griechischen Insel Lesbos.

Nicht jedes Kapitel entfacht gleichermaßen Sehnsucht nach "dolce far niente sulla spiaggia". Dafür ist das Buch klimatisch zu weit gefächert, von der Ostsee bis zur Ägäis. Und auch inhaltlich.

Brückenschläge

Baltschev, eine gute Stilistin, gelingen Brückenschläge von Jane Austen und Thomas Mann zu den Migrationswellen seit 2015, von bildender Kunst, James Ensor, der lebenslang in Ostende ansässig war, zum Krieg, dem D-Day in der Normandie, von Elena Ferrante über Hanns Cibulkas Ostseetagebüchern und J. D. Salinger zu den Albtraumburgen in Beton an Spaniens Mittelmeerküste und zum Elendsflüchtlingslager Moria. Das ist fast durchgehend erhellend und im letzten Drittel dann mit gelehrter Klugheit aufgeladen.

Dass sie sich auf gerade einmal acht Strände beschränkt, bedeutet im Umkehrschluss: Viele "beach books" bleiben unberücksichtigt. Ob nun Ian McEwans Am Strand oder Kobo Abes Die Frau in den Dünen, Tove Janssons Sommer-Buch ebenso wie Iris Murdochs The Sea, the Sea, Alex Garlands Der Strand und Daphne du Mauriers Die Bucht des Franzosen, Giampaolo Simis Cosa resta di noi und Eleonora Sottilis Senti che vento.

Natürlich hat sie an soziologisch-anthropologischer Literatur Jean-Claude Kaufmanns Band Frauenkörper – Männerblicke aus dem Jahr 1994 wahrgenommen. Jean-Didier Urbains ein Jahr später erschienener geistreicher Traktat Sur la plage zitiert sie erstaunlicherweise nach der englischen Übersetzung.

Charakteristische Inaktivität

Doch Marc Augés Essay Ort der wichtigen Nichtigkeiten, der im selben Jahr, zu Ferragosto 2015, in Le Monde diplomatique erschien, ist ihr zur Gänze entgangen. Und das ist tatsächlich ein Manko und ein Defizit.

Denn Augé, der neben vielem anderen über das Pariser Bistro, Nicht-Orte, die Métro und den Glücksmoment publizierte und 1997 L’impossible voyage über Tourismus und seine Bilder schrieb, dachte, so wie Urbain, sehr konkret, emphatisch und mit feiner Subjektivität über die für das Strandleben so charakteristische Inaktivität und die gestauchte und die sich andererseits dehnende, fast stillstehende Zeit nach, über die Rituale der Sommerfrische, die seit langem nicht mehr so heißt, über Abschweifung und Zerstreuung, soziale Zusammenführung und sorgsam betriebene Atomisierung, und das nicht nur im Zeichen von "slow città".

Wie schrieb Augé feinsinnig: "Der Strand bleibt der Ort der wichtigen Nichtigkeiten. Am Strand verbringt man die Zeit, und die verbrachte Zeit lässt sich nur am Strand wieder einfangen. Fantasie und Gedächtnis verschmelzen im unschuldigen Verbrauch der verlorenen und wiedergefundenen Zeit. Erinnerungen sind am Strand genauso fiktiv und genauso wahr wie Träume. Jeder verliert sich hier, und jeder findet sich wieder."

Kollektive Geselligkeit

Und so ehrenwert es ist, Hans Magnus Enzensbergers Aufsatz Vergebliche Brandung der Ferne anzuführen, in dem er 1958 leichthändig eine Theorie des Tourismus skizzierte – ist in den vergangenen 60 Jahren gar nichts Neues erschienen? Überraschung. Doch. Und zwar nicht wenig. Das leicht greifbar ist.

Etwa 1990 John Urrys The Tourist Gaze, worin er kollektive Geselligkeit und deren Zwänge wie soziale Notwendigkeit in einem Seebad wie Blackpool beschreibt. Und der deutsche Soziologe Christoph Hennig dachte 1997 über das anthropologische Skelett auch des Strandvergnügens nach, das da wäre: Fest, Ritual, Spiel.

Er beugte sich, o Abscheu, o Pauschalbiberln, über den "Ballermann"-Strand auf Mallorca. Und fand in den dortigen derbvulgären abstoßenden Exzessen karnevaleske und an mittelalterliche Festivitäten, bei denen für einige Tage die Welt und alle Moral auf den Kopf gestellt wurden, gemahnende Aktivitäten.

Vielleicht hat tatsächlich Joachim Ringelnatz noch immer am schönsten die gesamte Zum-Strand-zieh-Sehnsucht ausgedrückt, in Abend am Strand: "Abendglühgold zittert auf träumender See. / Eine Möwe zieht ihre einsamen Kreise. / Auf dem Wasser treibend, ein Boot. Und leise, leise / bringt mir der Wind eine müde Weise. – – / Närrisches Herz, was stimmt dich so weh?" Ach, der Strand. (Alexander Kluy, ALBUM, 20.6.2021)