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Donna Leon, der Name ist kein Pseudonym, hat erst mit 50 zu schreiben begonnen.

Foto: Picturedesk.com / laif / Gaby Gerster

Pünktlich zu Sommerbeginn gibt es wieder einen neuen Venedig-Krimi von Donna Leon. Es ist der dreißigste, und die 77-jährige Autorin denkt nicht ans Ende ihrer Liaison mit Commissario Brunetti. In Flüchtiges Begehren geht es unter anderem um zwei amerikanische Studentinnen, Menschenhandel und eine geheime Liebschaft.

Das bewährte Krimischema funktioniert zuverlässig. Zuerst ein Verbrechen, gewöhnlich ein Mord, gefolgt von langwierigen Ermittlungen mit mehr oder weniger verhaltensoriginellen Ermittlern. Die Ergreifung der Bösen ist oft von allerlei Blessuren bei den Guten begleitet. Diese werden einem durch Häppchen aus ihrem Privatleben nähergebracht.

Am Schluss kommt der große Knalleffekt mit der gerechten Strafe für Schurken und Schurkinnen. Danach ist die Welt wieder etwas mehr in Ordnung. Das ist das, was die Unterhaltung suchende Leserschaft erwartet.

Zunehmende Melancholie

Donna Leon macht das ein bisschen anders. Erst einmal mag sie keine exzessive Gewalt. Ihre Krimis beginnen meist, wenn das Verbrechen geschehen ist und Brunetti zu einem Mordopfer gerufen wird. Außerdem hat der Commissario seit 30 Bänden eine intakte Familie, ist kein Alkoholiker, obwohl er recht viel trinkt, er ist gebildet und liest die lateinischen Klassiker. Auch macht er keinen Abstecher auf die dunkle Seite der Macht.

Insofern unterscheidet er sich von den kaputten Typen, die sonst in Krimis ihr Unwesen treiben. In Leons Büchern steht die Zeit fast still. Brunetti bleibt der gute und kluge Mensch; dass er altert, wird höchstens an seiner zunehmenden Melancholie sichtbar. Oder daran, dass bei seinem Klassentreffen schon etliche Schulkameraden fehlen.

Donna Leon, "Flüchtiges Begehren". Deutsch: Werner Schmitz. 24,70 Euro / 320 Seiten. Diogenes, 2021

Leon verzichtet darauf, ihre Handlung an einer bestimmten innenpolitischen Periode festzumachen. Wiewohl sie durchaus kritische Töne zum Zustand des Staates findet, kommt aktuelle Politik nicht vor. Ihre Figuren bleiben sich treu. Brunettis Vorgesetzter Vice Questore Patta ist wie immer: eitel und obrigkeitshörig.

Dazu gesellt sich die findige Elettra, begnadete Hackerin und Netzwerkerin, die Brunettis Eskapaden deckt (im TV von Annett Renneberg verkörpert, die die Autorin auch zu ihren Lesungen begleitet), sowie der loyale, rundgesichtige Ispettore Vianello und natürlich Brunettis Frau. Die schöne Paola, Universitätsprofessorin für Literatur mit einem Faible für Henry James, hat wohl auch etwas von der Autorin selbst.

Vielschichtiger angelegt

Leon, geboren 1942 in New Jersey, verließ als Studentin die USA, um in Perugia und Siena weiterzustudieren. Sie lehrte Literatur an Universitäten im Iran, in China und in Saudi-Arabien und auch an einer Universität in der Nähe von Venedig, ihre halbfertige Dissertation über Jane Austen wurde von den saudi-arabischen Behörden bei ihrer Ausreise beschlagnahmt. Leon beschloss, die Arbeit nicht wiederaufzunehmen und eine akademische Karriere in den Wind zu schlagen. Was sie heute als Glücksfall empfindet.

Es ist fast unmöglich, beim Lesen der Brunetti-Krimis nicht an die ARD-Serie zu denken. Die literarischen Charaktere werden von den Bildern überlagert; in den Texten sind die Figuren vielschichtiger angelegt. Da es keine weiteren TV-Folgen gibt, kann man sich die Protagonisten wieder differenzierter vorstellen.

Als Eingeständnis an die genderbedingten Veränderungen kommen nun weibliche Polizisten hinzu. Claudia Griffoni, der das winzigste Büro der Questura zugeteilt wurde, ist Neapolitanerin. Das erfüllt Brunetti manchmal mit leisem Misstrauen.

Man weiß ja, wie die Neapolitaner sind. Korrupt, und alle sind irgendwie miteinander verwandt, was Betrügereien Vorschub leistet. Diese unbewussten Vorurteile muss Brunetti erst bei sich ausräumen – ein amüsanter Seitenhieb auf die Spannungen zwischen dem Norden und dem Süden Italiens.

Vielfältige Motive

Die Motive der Krimis sind so vielfältig wie die Serenissima selbst: Bauskandale, Korruption, Hochwasser, Müllmafia und so fort. Die furchtbaren Schlachthöfe in Mestre, der Dreck, mit dem die Petrochemie in Marghera die Umwelt verseucht, die illegalen Muschelfischer, die das ohnehin kaputte Ökosystem mit ihren Schleppnetzen ruinieren, Flüchtlingsdramen und der Schwarzmarkt für Antiquitäten. Es geht viel um Kunst.

Leon findet ihre Themen vor allem in der Musikwelt. Sie liebt Barockmusik, ist Sponsorin des Orchesters Il Pomo d’Oro, mit Cecilia Bartoli befreundet und schildert in ihren Geschichten den exzentrischen Kosmos der Sängerinnen, Dirigenten, Musikliebhaber, Sammler und Blender.

Gabriella Gamberini Zimmermann (Hg.), "Mit Brunetti durchs Leben. Brevier für nachdenkliche Optimisten". 24,70 Euro / 397 Seiten. Diogenes, Zürich 2021

Venedig ist eine Schatzhöhle voller geheimer Geschichten und eine Stadt, die viele zu kennen meinen. Leon hat sich aus ihrer Stadt, in der sie seit 1981 lebte, zurückgezogen. In die Berge, nach Graubünden, in die Ruhe und Stille. Seit kurzem ist sie Schweizer Staatsbürgerin.

Venedigs Kitsch

Die Millionen Besucher, die Venedig jährlich überschwemmen, dürften sich nach der Corona-Atempause bald wieder einstellen. Es gibt immer weniger "echte" Einwohner, viele sind weggezogen, auf der Flucht vor den Touristenmassen, die den Markusplatz überfluten und dann wieder in ihr hochhaushohes Kreuzfahrtschiff verschwinden.

Auch wenn die Kreuzfahrtschiffe mit Restriktionen belegt wurden, beklagt Leon, dass die Infrastruktur des alten Venedig verschwindet und man zum Beispiel keinen nahe gelegenen Bäcker mehr findet, sondern nur Kitschgeschäfte mit importiertem Ramsch.

Paradoxerweise hat Leon mit ihren Bestsellern dazu beigetragen, Venedig zum Reiseziel zu machen. Es gibt ein Kochbuch mit Brunetti-Rezepten, und man kann Führungen auf den Spuren des Commissario buchen. Ihre Krimis sind in 35 Sprachen, aber nie auf Italienisch erschienen.

Die Autorin, die kaum Interviews gibt und den Hype um ihre Person nicht schätzt, will lieber unerkannt durch die Stadt gehen. Dazu passt auch gut, dass sie weder Handy noch Fernseher besitzt.

Donna Leon, der Name ist kein Pseudonym, hat erst mit 50 zu schreiben begonnen. Eine echte Weiterentwicklung des Genres ist von ihr nicht zu erwarten. Aber sie kommt nie moralisierend daher, auch wenn sie wütend über Ungerechtigkeiten ist, überlässt sie Lesenden das Urteil. Und so werden auch diesen Sommer wieder zahllose ihrer Krimis mit auf die Reise gehen.

Der letzte Satz aus Flüchtiges Begehren lautet: "‚Jetzt übernehmen wir, Signore‘, sagte der Soldat, und Brunetti ließ den Ort des Geschehens hinter sich, aber nicht das, was er soeben getan hatte." Wie’s weitergeht, erfahren wir im nächsten Sommer. (Ingeborg Sperl, ALBUM, 19.6.2021)