Bachmannpreis-Juror Michael Wiederstein beklagte am letzten Text des Tages das "zu Korrekte zum Thema Alltagsrassismus".

Foto: LST Kärnten/Johannes Puch

Dana Vowinckel las zum Auftakt des letzten Lesetages beim Bachmannpreis eine jüdische Familiengeschichte zwischen Berlin, Chicago und Israel. Das Mädchen Margarita, das sich einen Sommer lang bei den amerikanischen Großeltern langweilt, und ihr Vater, ein Rabbi, stehen im Zentrum. Das Private vermischt sich mit jüdischer Glaubenspraxis, Liturgie, Politik: Margarita weiß doch nichts über Israel. Der Text ist Auskopplung aus einem längeren.

Die Jury Lobte "Details, die eine Atmosphäre geben", "wirklich tolle Anlagen" und die verschiedenen Erzählperspektiven im Text, Klaus Kastberger zudem die Lesegeschwindigkeit angesichts von vielen zu getragenen Autorlesungen: "Die Zuschauer sind nicht so dumm, wie manche glauben." Ist orthodoxes Judentum gerade "in Mode", angesichts von Serien wie Unorthodox und Shtisel? "Es ist keine Mode", verneinte Insa Wilke. Es gebe ein "neues generationelles Selbstverständnis", in dem nicht mehr die Vorstellung herrsche, es müsse assimiliert und integriert werden. "Da existieren Welten nebeneinander. Das ist eine andere Vorstellung von gesellschaftlicher Realität. Ja, es entstehen dabei Konflikte, die müssen ausgehandelt werden."

Mann mit Boot, Mann mit Neid

Eine DDR/Wende-Aufarbeitungsgeschichte erzählte dann Timon Karl Kaleyta. Julians Familie hat damals Geld investiert und einen Wohnkomplex an einem See ausgebaut. Den Alleinerben mit Boot kümmern soziale und historische Probleme darum herum nicht, er ist stolz darauf. Erzähler ist aber dessen Freund: Bei Julian "ist alles so, wie es am besten für immer geblieben wäre". Alles in der Welt ringsum verändere sich dauernd, die Menschen müssten sich anpassen – Julian nicht. Der neurotisch-neidische Erzähler entwickelt augenzwinkernd erzählt Hassgefühle gegenüber dem leichtlebigen Freund.

Der Jury gefiel’s nur teils. "Ich hab das Gefühl, das ist der kleine Gatsby, geschildert in der Sprache der ‚Sendung mit der Maus‘ und das hat mir sehr gefallen", fand Kastberger. "Sehr gut gearbeitet", lobte Brigitte Schwens-Harrant das politische Potential. Vea Kaiser hingegen lernte in der Diskussion, "mit wie viel Wohlwollen man sich Dinge schönreden kann". Sie fand den Text zu "vage" und "handwerklich arm", auch für Mara Delius brach er "auf der sprachlichen Ebene zusammen". "Es ist die Freiheit jedes Autors, die Logik und Konzeption seines Autors selbst zu definieren", entgegnete Kastberger Kritik an der unklaren Motivation des Erzählers.

Wurzeln und Gewalt

Die in Graz lebende Nava Ebrahimi erzählte danach von einem Cousin und einer Cousine. Sie ist für eine Lesung in New York, er ist dort ein bekannter Tänzer. Weiß jemand, wer sie wirklich sind? Der Großvater war noch Pistazienbauer im Iran. Eine Geschichte über was Identität ausmacht, gekappte Wurzeln, die Aufbruchsstimmung in einem Jahrzehnte zurückliegenden Iran. "Du bist immer angespannt." – "Gewohnheit, das ist das Ausländerkind in mir." – "Du musst dir mehr Raum nehmen, so wie ich." – "Deshalb bist du Tänzer geworden?"

Die Jury hinterließ das zwiegespalten. Wiederstein fand ihn "virtuos", Kaiser "großartig". Tingler störten Amerika-Klischees und die Erzählerin war ihm "zu flach", Kastberger bekrittelte die für ihn unglaubwürdige realistische Ebene. "Das macht den Text zum Problem. Aber er öffnet einen Raum, den ich so in der Literatur noch nie gesehen habe". Deswegen hat er ihn wohl eingeladen. Die Möglichkeit, Leid in der Kunst zu verhandeln, aber auch die Problematik, dieses so zu vermarkten, fand Schwens-Harrant "ein extrem wichtiges Thema heute".

Wie wird man Rassismus gerecht

Nadine Schneider las als Letzte des heurigen Bewerbs über eine Jugend, angesiedelt in einem Haus mit Eltern und Großeltern in einem dörflichen Vorort in Deutschland. Die Familie versucht mit dem Anbau von Weinreben und dem Graben eines Brunnens Idylle und anzukommen, erlebt aber rassistische Angriffe. Die Urgroßmutter war Romni

.Kaiser hat selten so "wunderschöne, treffliche, individuelle Schilderungen eines Dorflebens gelesen". Tingler fand es nach Alfred Polgar hingegen "literarische Kost für Zahnlose". Die Schilderung so einer Enge könne man heute nicht mehr bringen, das wirke wie eine Simplifizierung. Wo seien etwa soziale Medien? Es könne beim Bewerten von Literatur doch nicht darum gehen, ihn mit der Realität abzugleichen, schaltete Delius sich ein. Michael Wiederstein fand den Text "schön gemacht", auf der anderen Seite störte ihn "das zu Korrekte des Textes zum Thema Alltagsrassismus". Der Text nutze Bilder eines Adalbert Stifter, klagte Kastberger: "Lösen wir damit Probleme von heute?"

Am Sonntag (ab 11 Uhr) werden die Preise vergeben. Necati Öziri, Leander Steinkopf, Verena Gotthardt, Dana Vowinckel haben wohl die besten Chancen. (wurm, 19.6.2021)