Die Jury war in Klagenfurt vor Ort, die Autoren waren nur zugeschaltet. Auch bei der Preisverleihung.

Foto: ORF/LST Kärnten/Johannes Puch

Die Möglichkeit, Leid in der Kunst zu verhandeln, aber auch die Problematik, dieses Leid in der Kunst zu vermarkten, waren in der Jurydiskussion nach der Lesung von Nava Ebrahimi am Samstagnachmittag Thema. Ihr Text Der Cousin erzählt nämlich von einer Autorin, die ihren Cousin in New York besucht, er ist Tänzer. Der Großvater war noch Pistazienbauer im Iran, sie haben aber Land und Familie hinter sich gelassen. Die in Graz lebende Ebrahimi entwickelt daraus eine Geschichte über Identität und Gewalt. Während die Autorin aus ihrem Buch vorliest, vertanzt der Cousin seine Leiderfahrung: "Du bist immer angespannt." – "Gewohnheit, das ist das Ausländerkind in mir." – "Du musst dir mehr Raum nehmen, so wie ich." – "Deshalb bist du Tänzer geworden?"

Vermarktung in der Kunst? In sofern hat es beinah selbstbespiegelndes Potenzial, dass Ebrahimi am Sonntag von den Juroren in Klagenfurt zur 45. Bachmannpreisträgerin (25.000 Euro) gewählt wurde. Eingeladen hatte sie Klaus Kastberger. Erstmals waren mehr weibliche als männliche Teilnehmer im Bewerb.

Heuer wurde gut erzählt

Es hat formal zwar schon radikalere und experimentellere Ausgaben der Tage der deutschsprachigen Literatur gegeben, vielfach wurde heuer dafür sehr gut erzählt. Wollte man die drei Lesetage salopp zusammenfassen, dann schrieben Männer über Männer mit Komplexen und Frauen über Frauen in schwierigen Situationen. Keine Zukunftsdystopien, exotischen Settings, stattdessen Gegenwartsbewältigung: neues Proletariat (Heike Geißler), Körpernormen (Julia Weber), Migration (Anna Prizkau), Rassismus (Nadine Schneider), Mehrfachbelastung (Magda Woitzuck).

Ganz anders die Themenlage hingegen bei Dana Vowinckel. Die 1996 geborene und damit jüngste Autorin heuer gewann mit Gewässer im Zip lock, dem Zusammenschnitt eines Romans über eine jüdische Familiengeschichte zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem, den Dlf-Preis (12.500 Euro). Das Private vermischt sich mit jüdischer Glaubenspraxis und Ratlosigkeit hinsichtlich Israels Politik.

Dana Vowinckel und Necati Öziri freuen sich zusammen.

Eine neue Generation

"Es gibt eine neue Generation, da existieren Welten nebeneinander. Das ist eine andere Vorstellung von gesellschaftlicher Realität", lobte Jurorin Insa Wilke die ganz selbstverständliche Erzählung von jüdischer Religion und Alltag. Etwas, das auch für Necati Öziri gilt. Der türkischstämmige deutsche Theatermacher (33) hatte in Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben aus der Sicht eines jungen türkischen Mannes einen Brief an den Vater geschrieben und damit die Lebenswelt türkischer Zuwanderer aufgerufen. Es gebe ein "neues generationelles Selbstverständnis", in dem nicht mehr die Vorstellung herrsche, es müsse assimiliert und integriert werden, stellte Wilke fest.

Man kann diesen begrüßenswerten und notwendigen Umstand "divers" nennen. Perspektivenvielfalt erobert neuerdings die Branche. Es war ein guter Jahrgang, auch eben weil Themen verhandelt wurden, die aktuell bewegen. Öziri bekam zum Kelag-Preis (10.000 Euro) auch den BKS-Publikumspreis und wird Stadtschreiber in Klagenfurt.

Die einzig leichtere Kost unter den Gewinnern bot Timon Karl Kaleyta (3sat, 7500 Euro). Wie Ebrahimi und Vowinckel hat er erst am letzten Tag gelesen, im Fokus von Mein Freund am See steht der Alleinerbe Julian. Erzähler ist aber dessen neidischer Freund. Alles in der Welt verändere sich dauernd, die Menschen müssten sich anpassen, Julian aber nicht, schwärmt der erst und steigert sich dann neurotisch in Mordfantasien hinein. Ein Text, in den soziale Fragen zwar hineinspielen, der aber mehr als die meisten anderen des Jahrgangs Fabulierfreude als Wert an sich feierte.

Neo-Jurorin Mara Delius hatte gleich nach Ebrahimis Lesung gemutmaßt, Der Cousin könnte die Gräben, die sich in der Jury zwischen der Fokussierung auf Welthaltigkeit einerseits und Formebene andererseits auftaten, schließen. Es könne beim Bewerten von Literatur nicht darum gehen, sie mit der Realität abzugleichen, postulierte Delius. Während sie nach diesem kühleren Anspruch bewertete, war die zweite Jury-Neueinsteigerin, Vea Kaiser, emotionaler. Es braucht beides. (Michael Wurmitzer, 20.6.2021)