Die jahrelangen Verhandlungen nach dem Votum sollten verhindern, dass die Brücken abgebrochen werden.

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Diese Woche jährt sich das Referendum über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs zum fünften Mal. Knapp 52 Prozent der Britinnen und Briten stimmten am 23. Juni 2016 für den Brexit – und lösten damit einen Verhandlungsmarathon aus, der erst im Dezember vergangenen Jahres mit der Einigung auf ein Handels- und Kooperationsabkommen sein Ende fand.

Gerungen wurde nicht nur zwischen London und Brüssel, sondern auch zwischen der britischen Regierung und dem Unterhaus. Legendär sind die Parlamentssitzungen unter dem damaligen Vorsitzenden John Bercow, der – auch mit lautstarken Ordnungsrufen – stets die Rechte der Abgeordneten verteidigte und, wie nun bekannt wurde, inzwischen von den Tories zu Labour gewechselt ist. Den Tories von Brexit-Premier Boris Johnson wirft er eine "reaktionäre, populistische, nationalistische und mitunter ausländerfeindliche" Politik vor. Inzwischen versuchen die Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals, mit den neuen Bedingungen zurechtzukommen.

Frage: Wie sehen die Briten ihre Entscheidung heute?

Antwort: Ende Jänner 2020 schied das Vereinigte Königreich aus der EU aus, Ende vergangenen Jahres auch aus dem Binnenmarkt. Seither scheint es, als wollten die Corona-gebeutelten Briten möglichst wenig über den Brexit reden. Premier Johnson vermeidet sogar das Wort, auch Labour-Oppositionsführer Keir Starmer scheint das Thema hinter sich gelassen zu haben. Demoskopen konstatieren die Schwächung alter Loyalitäten zugunsten der neuen Teilung des Landes in "Leavers" und "Remainers": "Unter jenen, die damals zur Urne gingen, haben nur sehr wenige ihre Meinung verändert", bekräftigt Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität.

Frage: Was sind die konkreten Auswirkungen auf die Parteien?

Antwort: Erst schien es, als werde der Brexit vor allem die Konservativen zerreißen. Doch in der ältesten Partei der Welt überwog der Machtwille: Premier Johnson warf alle Liberal-Konservativen aus der Partei, die Tories kannibalisierten die mittlerweile aufgelöste Brexit-Party (früher: Ukip). Damit erzielen sie in Umfragen regelmäßig mehr als 40 Prozent. Hingegen bleibt die Brexit-Krise bei Labour ungelöst. Parteichef Starmer scheut vor dem Thema zurück, weil die traditionelle Stammwählerschaft mehrheitlich den EU-Austritt befürwortet hatte. Die jungen, städtischen Mitglieder sind hingegen fast durchgängig Proeuropäer. Bei einer Nachwahl in Amersham, im Speckgürtel nordwestlich von London, sammelten sich enttäuschte Tory-Wähler deshalb unter dem Banner der schon totgeglaubten Liberaldemokraten. Diese prangern Johnsons Brexit-Kurs ebenso regelmäßig an wie die schottische Nationalpartei SNP, die für die Unabhängigkeit von London und für die EU-Mitgliedschaft trommelt.

Frage: Bleibt nach dem Austritt aus dem europäischen Bündnis die Union der britischen Nationen erhalten?

Antwort: Das Vereinigte Königreich wirkt zunehmend uneins. Sogar in Wales nimmt eine ernstzunehmende Bewegung für die Loslösung von London Gestalt an. Im Norden gibt es sie längst. Das Referendum über die schottische Unabhängigkeit 2014 hatten die Unionisten nicht zuletzt mit dem Argument der EU-Mitgliedschaft mit 55:45 Prozent für sich entschieden, 2016 wollten die Schotten mit 62 Prozent im Brüsseler Club bleiben. Bei der Regionalwahl im Mai haben die Schotten die SNP-Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon klar im Amt bestätigt; ein heftiger Verfassungsstreit mit London ist nur eine Frage der Zeit. In Nordirland kommt die protestantisch-unionistische DUP nicht aus der Krise. Sie war 2016 die einzige größere Partei, die den Brexit befürwortete; das Wahlvolk stimmte aber mit 56 Prozent für den Verbleib in der EU. Das Nordirland-Protokoll im Austrittsvertrag ist nun beinahe täglich zwischen London und Brüssel umstritten. Von einer baldigen Volksabstimmung über die Vereinigung mit der Republik im Süden, von der die katholisch-nationalistische Sinn Féin träumt, kann zwar einstweilen keine Rede sein; ganz gewiss aber hat der EU-Austritt die Zugehörigkeit Nordirlands zu Großbritannien nicht gestärkt.

Frage: Wie hat sich die Gesellschaft verändert?

Antwort: Die auch von Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage geschürte Sorge vor unbegrenzter Einwanderung hatte viele Leave-Wähler umgetrieben. Prompt bekamen im Sommer 2016 viele der in Großbritannien lebenden EU-Bürger alte Vorurteile zu hören, wurden direkt oder indirekt zum Verlassen des Landes aufgefordert. Fünf Jahre danach sind tatsächlich hunderttausende in die Heimat zurückgekehrt, teils aus wirtschaftlichen Gründen, teils weil sie sich nicht mehr willkommen fühlten. Die Covid-Pandemie tat ihr Übriges. Schon suchen Restaurant-, Hotel- und Pub-Betreiber händeringend nach billigen Arbeitskräften.

Frage: Welche wirtschaftlichen Folgen hat der Brexit außerdem?

Antwort: Das Ergebnis des Referendums erschütterte die Finanzmärkte, das Pfund rauschte in den Keller und verlor 15 Prozent an Wert. Allerdings hat das Finanzzentrum City of London bisher kaum Arbeitsplätze an die Eurofinanzplätze Dublin, Frankfurt und Paris abgegeben. Bei Dienstleistungen dürften die Folgen einschneidend sein, weil der kurz vor Weihnachten abgeschlossene Handelsvertrag auf Londons Drängen hin nur vom Güterverkehr handelte. Doch auch bei diesem gibt es Negativeffekte. Im ersten Quartal dieses Jahres ging der Export von Lebensmitteln und Spirituosen in die EU um 46,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück; im Vergleich zu 2019, ehe Covid-19 erstmals Auswirkungen zeigte, lag der Schwund sogar bei 55,1 Prozent. Weil der Import von Gütern, vor allem von frischen Lebensmitteln, weniger betroffen ist, verlassen viele Schwerlaster vom Kontinent, die früher selbstverständlich vollbeladen in die Heimat zurückkehrten, jetzt die Insel mit leerem Laderaum. Bei der Schwerverkehr-Lobby RHA heißt es schon mit bitterem Humor, das Königreich habe es zum "Weltmeister im Export von frischer Luft" gebracht. (Sebastian Borger aus London, 21.6.2021)