Mit dem Öffnen der Schulen und des öffentlichen Lebens nach einem herausfordernden Pandemiejahr mit Online-Unterricht und sozialer Distanzierung, nehmen auch Schulen der Erwachsenenbildung unter Einhaltung der vorgegebenen Sicherheitsmaßnahmen wieder den Unterricht in Präsenz auf. In ganz Österreich gibt es Bildungsorte, an denen Erwachsene ihre Grundkompetenzen in Deutsch, Mathematik, Englisch und in digitalen Anwenderkenntnissen ausbauen können. Immer steht auch die Anwendungsmöglichkeit des Gelernten im Alltag im Fokus, eine Sicherheit zu entwickeln, mit verschiedenen Herausforderungen umgehen zu lernen. Dadurch kann sich Selbstbewusstsein und autonomes Handeln entwickeln.

Eine Person, die diesen Weg gegangen ist, ist Frau Amiri. Sie ist vor etwa zweieinhalb Jahren an die VHS Floridsdorf gekommen, um eben diese Lernerfahrung machen zu können. Am Ende des Kurses im Februar 2020, noch vor Ausbruch der Pandemie in Österreich, wurde sie zu ihren Motivationen und Erfahrungen im Kurs befragt.

Du kannst das!

Ihren Weg zur Basisbildung fand Frau Amiri durch ihren Mann, der bereits einen Pflichtschulabschluss absolviert hat. Nun konnte sie auch den Mut aufbringen, ihre Wünsche zu formulieren: in die Schule gehen, eine Ausbildung machen, lernen. Denn Frau Amiri hat nie eine Schule besucht.

Aus Angst, den Herausforderungen nicht gewachsen zu sein, sagte sie kurzfristig dreimal ihre bereits vereinbarten Termine zur Beratung ab, bevor sie dann mit dem Leitsatz „Du kannst das“ doch die Beratung in Anspruch genommen hat. Zwei Jahre war sie im Kurs und bemerkte bald, wie sie sich im Alltag gestärkter fühlte und sie Freude am Lernen entwickelte. Ihre Schwierigkeiten mit Rechnen und Schreiben wurden weniger, und auch die Uhrzeit zu lesen war bald für sie alleine zu bewältigen. Früher hatte sie Stress, Termine zu vereinbaren oder Formulare auszufüllen. Aber jetzt hat sie ihren Stress überwunden und das Zittern und Schwitzen in diesen Situationen gehört nun der Vergangenheit an.

Lesen, Schreiben, Rechnen lernen ist auf mehreren Ebenen relevant.
Foto: APA/dpa/Felix Kästle

Eine der überraschendsten Erfahrungen im Basisbildungskurs war eine öffentliche Lesung am Wiener Tag der Bücher, die von Programm Managerinnen in Zusammenarbeit mit Kursleiterinnen und Kursleitern organisiert wurde: „Das war super, da waren viele Leute im Publikum und viele Frauen haben eigene Texte vorgelesen. Starke Frauen, die meisten haben sich erst nicht getraut, aber wir haben es geschafft und wir waren gut!“ Da auch Referate und Präsentationen Teil des Unterrichts sind, konnten sich die Kursteilnehmenden darauf vorbereiten. Das war zwar schwierig und strapaziös, aber alle haben es trotzdem gut geschafft.

Lernen fürs Leben

Frau Amiri hat drei schulpflichtige Kinder, für die sie Elterngespräche in der Schule wahrnehmen soll. Ein Gespräch konnte sich aber leider selten entwickeln, weil Frau Amiri immer nur „okay“ sagen konnte. Heute stellt auch sie Fragen und kann so aktiv am Lernprozess ihrer Kinder teilnehmen.

Aber nicht nur die Alltagsgestaltung kann sie heute aktiver und selbstbestimmter leben, auch ihre Wahrnehmung als Frau verbesserte sich durch die Bildung: „Manchmal denke ich, ich bin nicht diese Person, die nie in die Schule gegangen ist. Manchmal fühle ich mich so stark. Ich denke, alle Frauen können das schaffen, wenn sie wollen. Wenn sie denken, sie sind zu alt, dann ist das nicht richtig. Weil man ist nie zu alt zum Lernen. Lernen hat kein Ende.“

Frau Amiri ist Österreich sehr dankbar, dass sie nun lernen kann und so viel Unterstützung dabei erfährt. Sie lernt für sich, denn diese vier Stunden in der Schule pro Tag, das ist ihre Zeit, ihr Leben.

Auch das Familienleben änderte sich und sie wurde für ihre Kinder zum lernenden Vorbild, das sie auch zu Hause zum Lernen motiviert.
Sie vertritt die Meinung, dass Menschen Bewegung brauchen, auch das Gehirn braucht Lernen, um in Bewegung bleiben zu können. Zu Hause vereinsamt man, man fühlt sich mit der Zeit isoliert.

Motivation, weiterzumachen

Die Kontakte im Kurs bedeuten für sie nicht nur einen geistigen Ansporn, sondern auch einen sozialen Austausch. Ihre Motivation zieht sie aus der anspornenden Zuwendung der Kursleitung sowie aus den Fortschritten, die sie erkennen kann. „Wenn ich ein Arbeitsblatt bekomme und es ohne Fehler lösen kann, dann motiviert es mich, weiterzumachen.“

Auf die Frage ihrer weiteren Lebenspläne antwortet Frau Amiri: „Ich könnte auch zu Hause sitzen und im Internet surfen oder Serien schauen, niemand zwingt mich. Aber ich kann auch Fortschritte machen, fleißig lernen und ich kann auch anderen Menschen helfen.“ In fünf Jahren möchte sie bei den Wiener Linien Straßenbahnen fahren. (Julia Rührlinger, Florian Pawlik, 25.6.2021)

Florian Pawlik und Julia Rührlinger arbeiten seit einigen Jahren in der Erwachsenenbildung mit Schwerpunkt Alphabetisierung und Basisbildung und waren im Projekt Campus Basisbildung aktiv.

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