Kaum von der Welt wahrgenommen, wird seit dem 24. April im Irak wieder Krieg geführt. Ein symbolisch bedeutsames Datum, das weltweit als Gedenktag an den Genozid am armenischen Volk 1915 begangen wird. Heuer hat US-Präsident Biden als erster US-Präsident in seiner Ansprache den Genozid als solchen benannt und damit die Türkei erzürnt.

Getroffen wird mit den Angriffen auch die Zivilbevölkerung, die in dieser Grenzregion überwiegend aus assyrischen Christen besteht. Auch diese wurden 1915 Opfer eines Genozids durch die damalige Regierung des Osmanischen Reiches. Nur im kleinen Teil ihres Siedlungsgebietes, der nach dem Ersten Weltkrieg Teil des Irak wurde, konnten die Überlebenden zurückkehren. Die assyrischen Christen dieser Region waren seit Jahrhunderten eng mit der kurdischen Stammesbevölkerung verbunden und bildeten teilweise auch gemeinsame Stammesföderationen. Zugleich waren aber auch an ihren Verfolgungen Kurden beteiligt. Insbesondere der heute noch von vielen kurdischen Nationalisten als Nationalheld gefeierte Simko Schikak war für Massaker an den Assyrern verantwortlich und ließ 1918 den Patriarchen der assyrischen Kirche, Mar Benyamin Shimun XXI., in einem Hinterhalt ermorden.

Als aramäischsprachige Christen, die von ihren Gegnern mit dem Namen "Nestorianer" verunglimpft wurden, bilden die Assyrer bis heute eine tribale Gesellschaft, die jener der Kurden in vielen kulturellen Ausdrucksformen ähnlich ist. Im Gegensatz zur Türkei konnten sie im Irak zumindest überleben, wobei sei auch hier unter Druck arabischer und kurdischer Nationalisten kamen. 1933 flohen viele nach dem Massaker von Semele weiter ins damals noch französische Syrien. Unter Saddam Hussein wurden die grenznahen Dörfer gemeinsam mit jenen der Kurden zerstört. Nachdem die Kurden 1991 sich eine prekäre Autonomie erstritten hatten, standen sie unter einem gewissen Kurdisierungsdruck der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans, die unter anderem die Ortsnamen kurdisierte. Aus der assyrischen "Hauptstadt" des grenznahen Unterdistrikts namens Ain Nuni wurde so das Kurdische Kani Masi.

Türkische Expansion

Schon 1996 etablierte die Türkei in der Nähe der Ortschaft eine Militärbasis. Die Türkei sieht die Region als ihr erweitertes Operationsgebiet gegen die PKK. Aber es geht um mehr als nur die PKK. Die Schwäche des Irak und Syriens hat vielmehr alte revanchistische Pläne der Türkei in das Reich der Möglichkeiten zurückgebracht. Die alte osmanische Provinz Mosul, das Wilayat Mosul, war 1918 beim Waffenstillstand von Mudros zwischen osmanischem Reich und den Alliierten nicht besetzt. Die britische Armee marschierte erst Anfang November 1918 kampflos in Mosul ein. Türkische Nationalisten haben seither den Anspruch auf das Wilayat Mosul nie aufgegeben. Der Nationalpakt (Misak-ı Millî), das politische Manifest der türkischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, erhob Anspruch auf die heutige Türkei, das zu Griechenland gehörende West-Thrakien, einige Gebiete im Kaukasus, Zypern, große Teile Nordsyriens und eben das Wilayat Mosul.

Mustafa Kemal (Atatürk) wollte bereits 1924 in Mosul einmarschieren. Erst eine Entscheidung des Völkerbundes und eine Übereinkunft von 1926 schlug das Wilayat Mosul und damit auch die heutigen Gebiete der Autonomieregion Kurdistans dem damals britischen Irak zu.

Kurden demonstrieren gegen die türkische Militäroffensive.
Foto: AFP /DELIL SOULEIMAN

Die territorialen Vorstellungen des Nationalpaktes blieben aber Staatsziel für alle Schattierungen türkischer Nationalisten. 1938/39 gelang es der Türkei Hatay zurückzubekommen und die Bürgerkriege und Instabilität in Syrien und im Irak ermöglichen es nun der aktuellen Regierungskoalition zwischen AKP und rechtsextremer nationaler Bewegungspartei MHP den nächsten Schritt zur Restauration zu setzen. Schon im Zuge des Kampfes gegen den IS konnte die Türkei eine große Militärbasis in Bashiqa, östlich von Mosul etablieren. Das wiedereröffnete Konsulat in Mosul versucht seit einigen Monaten die lokalen Notabeln an die Türkei zu binden und der politische und ökonomische Einfluss auf die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), die den Norden des Autonomiegebietes Kurdistans im Irak kontrolliert, ist seit den 1990er-Jahren gewaltig.

Innerkurdische Rivalität

Bereits im Sommer 2020 besetzte die Türkei einige irakische Grenzgebiete, die bisher als Operationsgebiete der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) galten. Die Regierung in Bagdad kann in diesen kurdisch kontrollierten Regionen nicht verhindern, dass sich die Türkei nach Syrien nun auch im Irak immer mehr breit macht. Der PDK war die innerkurdische Rivalität mit der PKK und die ökonomische Abhängigkeit von der Türkei wichtiger, wie die Souveränität des ohnehin ungeliebten Irak.

PDK-Politiker betonen bei jeder Gelegenheit, die türkische Invasion richte sich nicht gegen die Kurden, sondern nur gegen die PKK. Wer mit PDK-Politikern unter vier Augen spricht, hört hingegen, dass diese sehr wohl wissen, dass die Türkei freiwillig kein besetztes Gebiet wieder hergeben wird. Aus Sicht der PDK ist es allerdings die PKK, die mit ihrer Präsenz an der Grenze, die Türkei in den Irak gelockt habe. Manch PDK-Politiker sieht gar nur in einer aktiven Bekämpfung der PKK durch die Peshmerga, die bewaffneten Kämpfer der PDK, eine Möglichkeit, die Türkei am weiteren Vormarsch zu hindern.

Umgekehrt sieht sich die PKK als Verteidigerin Kurdistans und wirft der PDK vor, mit dem Feind zu kollaborieren. Die innerkurdischen Wortgefechte erinnern sehr an die frühen 1990er-Jahre als die Konflikte zwischen PDK und der im Süden Irakisch-Kurdistans einflussreichen Patriotischen Union Kurdistans (PUK) so weit eskalierten, dass ein mehrjähriger Bürgerkrieg die Region von 1994 bis 1997 lahmlegte. Im damaligen Bürgerkrieg, der als Birakujî (Brudermord) in die kurdische Geschichte einging, spielten die Nachbarländer eine gewisse Rolle. Nachdem sich die PDK sogar mit dem alten Erzfeind Hussein gegen die PUK verbündet hatte, erhielt die PUK Unterstützung vom Iran. Ausgerechnet die Türkei überwachte schließlich ab 1997 den Waffenstillstand und war damals mit dem Rückzug der PKK in den Irak ganz zufrieden.

Nun verläuft die Konfliktlinie zwischen PDK und PKK. Die Spannungen zwischen PKK und PDK eskalierten am 5. Juni, nachdem fünf Peshmerga in der Nähe der Stadt Amedi ums Leben gekommen waren. Der konkrete Vorgang ist bis heute unaufgeklärt. Während die PDK behauptet, die Peshmerga wären von PKK-Kämpfern getötet worden, dementierte die PKK dies und spekulierte, die Peshmerga wären wohl bei einem türkischen Luftangriff ums Leben gekommen. Lokale Quellen sprechen hingegen von einer Mine. Dafür spricht auch, dass es sich bei den Peshmerga um Angehörige eines Entminungstrupps handelte.

Seither gehen jedenfalls auf beiden Seiten die Gemüter hoch. Dabei sind die Blöcke allerdings nicht so einig, wie es auf den ersten Blick scheint. Aus der zwischen Präsident Nechirvan Barzani und seinem Cousin, dem Premierminister Masrour Barzani gespaltenen Partei, werden Stimmen lauter, die die passive Unterstützung der türkischen Invasion kritisieren. Selbst aus der Familie Barzani selbst meldete sich ein ehemals hochrangiger PDK-Politiker zu Wort: Edhem Barzani verließ Ende Mai kurzfristig den Irak und kritisierte die Untätigkeit der kurdischen Regionalregierung. Die Türkei werde kein Gebiet, das sie einmal besetzt haben, wieder räumen, erklärte er der überraschten Öffentlichkeit und kündigte an "in Kürze mit einer Revolutionären Volksbewegung zurückkehren".

Auch hochrangige PUK-Politiker hatten die letzten Tage erklärt, dass ihre Peshmerga sich nicht an einem Kampf gegen die PKK beteiligen würde und sogar eine ganze Einheit von 180 PDK-Peshmerga legte ihre Waffen nieder und erklärte, nicht gegen die PKK kämpfen zu wollen. Ob dies genügt, ein innerkurdisches Blutvergießen zu verhindern, wird sich allerdings erst weisen müssen.

Der Vormarsch geht weiter

Vorerst geht der türkische Vormarsch weiter. Bereits vier größere grenznahe Gebiete im Norden der Provinzen Dohuk und Erbil sind unter türkischer Besatzung. Teile der dortigen Zivilbevölkerung sind in die Städte Dohuk und Zakho geflohen.

Die Türkei hat in den neu besetzten Gebieten damit begonnen in Kooperation mit lokalen kurdischen Unternehmern weite Waldflächen zu roden und das Holz in die Türkei abzutransportieren. Stattdessen werden neue Straßen gebaut, um das Gebiet besser kontrollieren zu können. Die Drohnen-Technologie der Türkei benötigt freies Gelände, um die Kämpfer der PKK aufspüren zu können. Gerade diese Aufrüstung der Türkei mit Drohnen hat die Guerilla der PKK in den letzten Monaten in Angst und Schrecken versetzt und militärische Angriffe in der Türkei fast verunmöglicht. Zwar besitzt die PKK teilweise gut ausgebaute Tunnelsysteme in der Region, die Drohnen dürften allerdings so etwas wie ein militärischer Gamechanger sein. Eine wirkliche Vernichtung der Guerilla ist zwar unwahrscheinlich, da diese einfach zu viel Unterstützung und damit auch Nachschub aus der Türkei hat, allerdings ist die Türkei derzeit militärisch eindeutig überlegen.

Für ihr Ziel, die Territorien des Nationalpaktes mittelfristig wieder einzuverleiben, wäre die Existenz der PKK allerdings kein Hindernis. Im Gegenteil: Sie stellt derzeit für die Türkei die einzige Rechtfertigung für ihre Expansion nach Syrien und in den Irak dar. Insofern wären die expansionistischen Ziele der Türkei auch ohne einen militärischen Sieg über die PKK erreichbar – auf Kosten des Iraks und Syriens. (Thomas Schmidinger, 23.6.2021)