Vom Publikum geliebt, von der Kritik gelobt: Autorin Zeruya Shalev. Wie ihre Hauptfigur Rachel sieht auch sie ihre Heimat Israel kritisch.

Foto: Jonathan Bloom

An einer Stelle heißt es in Zeruya Shalevs neuem Roman: "In letzter Zeit hat sie das Gefühl, sie habe den Staat schon aufgegeben und führe nur noch ihr Haifaer Stadtleben, das Leben der einzigen Stadt in Israel, die versucht, die Vision eines Zusammenlebens zu verwirklichen, eine beinah romantische Fantasie, die sie verzaubert hatte, als sie von Jerusalem hierhergezogen war. Doch die Nachrichten, die sie jetzt liest, bieten nicht viel Hoffnung" – auch nicht für Haifa. Die Autorin, die selbst in Haifa lebt, hat mit Schicksal ein Buch über Wunden und Bruchlinien des Staates Israel geschrieben.

Die eine Hauptfigur der 400 Seiten ist Atara, 50, Architektin, Mutter, Ehefrau, die gerade auf dem Handy nervös durch die Newsfeeds gescrollt und die düstere Prognose gestellt hat. Zeruya Shalev konzentriert sich in dem Buch aber nicht nur auf die aktuellen Konflikte. Sondern zentral sind die Lechi, jene Untergrundorganisation, die ab 1940 die britischen Besatzer in Israel mit Anschlägen bekämpfte und vertreiben wollte. Die zweite Hauptfigur im Buch ist Rachel. Mittlerweile 90 Jahre alt, war sie früher so eine Abwehrkämpferin – und verheiratet mit Ataras späterem Vater. Von einem Tag auf den anderen hatte er den Kontakt zu Rachel abgebrochen. Atara sucht Rachel auf, nachdem ihr Vater am Totenbett seine Liebe zu jener beteuert hat.

Politik als Hintergrundrauschen

Ja, Liebesgeschichten spielen in dem Buch eine mindestens ebenso große Rolle wie die historischen und politischen Diagnosen. Beziehungen sind nach fünf auch ins Deutsche übersetzten Romanen seit 2000 das Spezialgebiet der Autorin. Doch schon bisher hat Shalev Israels innere Konflikte als Hintergrundrauschen genutzt und fängt dabei viele Themen ein, die ein dichtes Bild entwerfen.

So klagt Rachel, dass die Lechi lange verachtet und nicht gewürdigt wurden, ehe der Staat sie rehabilitierte. "In den letzten Jahren ist außer ihr kaum noch jemand übrig, der von der Lechi erzählen kann." Auch Nachfahren von Lechi wurden lange verachtet. Rachel ergeht es selbst innerhalb der Familie so. Wenn heute Araber in der Jerusalemer Altstadt Messerattentate verüben, wirft ihr älterer Sohn ihr vor: "Ihr seid doch auch Terroristen gewesen!" Hat er recht? Gibt es doch einen Unterschied? Hatte Rachel anfangs an ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern geglaubt, ist sie inzwischen entmutigt. Schon lange wohnt sie in einer umstrittenen Siedlung in der Wüste, die ihr Sohn als "verbrecherische Besatzung" bezeichnet.

Auf der anderen Seite steht die Frage nach den Orthodoxen. Rachels jüngerer Sohn ist auf der Suche nach Lebenssinn fromm geworden, was der Mutter nicht gefällt. Auch Religion spaltet also die Familie. Mit dem heutigen Israel hadert Rachel angesichts ihres einstigen Kampfes obendrein, es sei "graue Mittelmäßigkeit, eine korrupte Diktatur kleinkarierter Beamter, engstirniger Isolationismus".

Eine wahnwitzige Aktion

Die Erzähllogik des Pageturners will, dass es auch Atara kaum besser ergeht. Deren Sohn Eden setzt der Militärdienst schwer zu. Seit einem Monat gammelt er nur herum, spricht nicht mit den Eltern und liest Artikel über Soldatenselbstmorde. Sein Vater war von Anfang an gegen den Dienst und nennt den Sohn spöttisch "Ninja". Das wäre leichter zu ertragen, verliefe Ataras Ehe mit dem frühpensionierten Soziologen Alex harmonischer. Doch es ist schon lange nicht mehr wie früher, als sie füreinander ihre ersten Ehen gesprengt haben. Er ist grimmig, zeigt wenig Verständnis, Nähe spürt Atara nur, wenn sie Sex haben, wozu sie es selten kommen lässt. Eine Steilvorlage für eine wahnwitzige Aktion: So dysfunktional wie die Eheleute geworden sind, versucht Atara den zur Hälfte des Buches verstorbenen Alex wiederzubeleben, indem sie ihm die Hose öffnet und sich auf die Leiche setzt.

So klar die Autorin auf der politischen Ebene seziert, so emotional sind die Beziehungsszenen. Patchworkfamilie, Mutterschaft, Vereinbarkeit mit dem Beruf: Das liest sich oft ein bisschen abgegriffen und als hätte man Stapelware in der Hand. Shalev verfolgt keine merklich emanzipatorische Agenda, ist damit allerdings vielleicht näher an so mancher Lebensrealität dran. Dann wieder gelingt ihr mehr Originalität und Tiefe. Wenn in Shalevs langen Sätzen nahtlos Rede und Gedanken einer Figur, eine Situationsschilderung und die Gedanken einer anderen Figur aneinander anschließen, holpert das zuweilen, fließt insgesamt aber elegant dahin. Eine überbordende Mischung. (Michael Wurmitzer, 22.6.2021)