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Nikol Paschinjan gilt vielen als "Berufsrevolutionär". In der angespannten Atmosphäre in Armenien muss er jetzt Führungsstärke beweisen.

Foto: AP / Tigran Mehrabyan

Die Erleichterung war Nikol Paschinjan anzumerken, als er sich in der Wahlnacht von seinen Anhängern für den Sieg bei der Parlamentswahl in Armenien feiern ließ. Denn der Erfolg, vor allem in dieser Höhe – immerhin holte er die absolute Mehrheit –, war vor der Abstimmung nicht abzusehen gewesen. Zu tief war der Premier gefallen, der als Hoffnungsträger angetreten war, das korrupte System in Armenien zu erneuern.

Vor drei Jahren noch hatten ihm, dem ewigen Oppositionellen und "Berufsrevolutionär", die Massen zugejubelt. Damals war Paschinjan, der einst wegen regierungskritischer Texte von der Journalismusfakultät an der Eriwaner Uni verwiesen wurde und auch später als Chefredakteur einer Oppositionszeitung mit seinen Artikeln über Korruption stets aneckte, auf dem Höhepunkt seiner Popularität.

Vorzeitige Haftentlassung

Vergessen waren die Verleumdungsklagen vergrätzter Beamter und Politiker, die seine Zeitung in den Ruin trieben, vergessen ein Bombenanschlag, der sein Auto in die Luft jagte. Vergessen selbst die Gefängnisstrafe, die Paschinjan bekam, weil er nach Protesten gegen die Präsidentenwahl 2008 als Mitglied im Wahlkampfstab des unterlegenen Ex-Präsidenten Lewon Ter-Petrosjan zu einem der "Rädelsführer von Massenunruhen" erklärt wurde. Von den sieben Jahren, die ihm das Gericht damals aufbrummte, musste er eineinhalb Jahre absitzen, ehe er nach Urteilsüberprüfung und Amnestie vorzeitig entlassen wurde.

2018 jedoch war der inzwischen als oppositioneller Abgeordneter im Parlament sitzende Paschinjan mit seiner "Samtenen Revolution" erfolgreich. Der Unmut der Bevölkerung über die geplante Ämterrochade des von massiven Korruptionsvorwürfen begleiteten damaligen Präsidenten Sersch Sargsjan, der nun als Premier weiterregieren wollte, entlud sich in wochenlangen Protesten, die schließlich Paschinjan an die Macht brachten.

Der in Moskau wegen seiner eher prowestlichen Haltung kritisch beäugte Politiker war wirtschaftlich zunächst sehr erfolgreich: Bei der Korruptionsbekämpfung und der Pressefreiheit gab es spürbare Fortschritte. Steuererleichterungen riefen ein kräftiges Wirtschaftswachstum hervor, der IT-Sektor boomte.

Konflikt um Bergkarabach

Doch in Armenien sind auch andere Führungsqualitäten gefragt: Seit Jahrzehnten gärt der Konflikt um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte, aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Region Bergkarabach. Als dieser Konflikt im Herbst 2020 erneut ausbrach, versagte der 46-Jährige. Das Fiasko allein an ihm festzumachen, wäre verfehlt, doch im Konflikt mit dem eigenen Generalstab gab der vierfache Familienvater kein gutes Bild ab und blamierte sich mit unzutreffenden Angaben über von Russland gelieferte Waffensysteme.

Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags mit Aserbaidschan, den viele Armenier als Kapitulationsurkunde ansahen, wurde Paschinjan als "Verräter" und "Türke" beschimpft. Proteste brachen los, die die Regierung in höchste Bedrängnis brachten.

Doch Paschinjan, der seine Mutter schon als Zwölfjähriger verlor, ist es gewohnt, mit Widerständen zu kämpfen. Er organisierte Gegendemos seiner Anhänger und forcierte vorgezogene Neuwahlen zu einem Zeitpunkt, als die Opposition noch nicht bereit war. So sicherte er sich eine weitere Amtszeit.

Er muss aber nun beweisen, dass er aus seinen Fehlern gelernt hat und das für Armenien im Kaukasus ungünstige Kräfteverhältnis – eingekreist von zwei militärisch stärkeren Feinden, Aserbaidschan und der Türkei – mit strategischer Weitsicht und Diplomatie ausgleichen kann, ohne dabei die Fortschritte zu opfern, die Armenien auf dem Weg zu Demokratie und wirtschaftlichem Erfolg gemacht hat. (André Ballin, 21.6.2021)