Dass Menschen nicht nur eigennütziges, sondern oft auch kooperatives oder altruistisches Verhalten an den Tag legen, entspricht der Alltagserfahrung. Für Ökonomen, deren Modelle lange nur den selbstsüchtigen Homo oeconomicus kannten, und für Evolutionsbiologinnen und -biologen, die gerne jedes Verhalten aus der Perspektive des Fortpflanzungserfolgs erklären wollen, stellte dies jedoch lange ein Rätsel dar. Inzwischen weiß man, dass weder die ökonomische noch die biologische Perspektive im Widerspruch zur Beobachtung stehen muss. Tatsächlich hat die Kooperationsforschung seit den 1980er-Jahren vielfach gezeigt, dass altruistisch erscheinende Verhaltensweisen auch eigennützigen Motiven entspringen oder als Folge evolutionär optimierter Strategien erklärt werden können.

Eine spezielle Form scheinbaren Altruismus erscheint in Gestalt des Verzichts auf opportunistisches Verhalten. Warum etwa bezahlen wir am Kiosk unseren Kaffee, wenn wir doch auch einfach ohne Begleichung der Rechnung gehen könnten? Warum nehmen wir bei einem plötzlichen Wolkenbruch nicht einfach dem nächstbesten Passanten den Schirm aus der Hand?

Normalerweise verzichten wir darauf, uns Vorteile zu verschaffen, die unmittelbar auf Kosten anderer gehen. Der Verweis auf rechtliche Konsequenzen ist nicht überzeugend, denn wir tun dies auch dann nicht, wenn es keine Zeugen oder Überwachungskameras gibt. Die naheliegende Erklärung, dass wir eben gute Menschen sind, die moralisch richtig handeln und denen ein asoziales Verhalten nicht einmal in den Sinn kommt, mag einleuchtend erscheinen, wirft aber lediglich die Anschlussfrage auf, warum dieses moralisch richtige Verhalten nicht schon längst durch opportunistisches Verhalten verdrängt worden ist, wenn Letzteres doch den größeren materiellen Erfolg verspricht.

Gegenwehr schreckt ab

Tatsächlich tut es das jedoch oftmals nicht. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die Opfer asozialer Verhaltensweisen ihr Schicksal nicht einfach hinnehmen, sondern oft in Rage geraten und sich heftig zur Wehr setzen. Der Kioskbesitzer versucht uns festzuhalten und ruft nach der Polizei, die Eigentümerin des Regenschirms gibt diesen nicht her, sondern verprügelt uns damit.

Generell reagieren viele Menschen äußerst aggressiv auf Versuche, sie zu übervorteilen. Eine solche Reaktion dient jenen, die sie korrekt vorhersehen, als Abschreckung. Die Aussicht, wegen eines geringen Gewinns in eine körperliche Auseinandersetzung zu geraten und dabei verletzt zu werden, verkehrt den Erfolg der opportunistischen Strategie ins Gegenteil. Im Zuge der Evolution ist dieses Verhaltensprogramm zum Aussterben verurteilt.

Kampf oder Flucht?
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Mit dieser Erklärung haben wir aber ein Dilemma erschaffen. Denn auch das Opfer, das sich heftig wehrt, riskiert, in einen Kampf verwickelt und verletzt zu werden. Die Gegenwehr scheint also aus evolutionärer Perspektive erst recht wieder als ein paradoxes Verhalten. Wieso nehmen wir einen kleinen Nachteil nicht einfach in Kauf, statt einen großen Nachteil zu riskieren?

Eine wichtige Rolle spielt dabei offenbar unsere Reputation. Unsere Reaktion auf einen Angriff auf unser Eigentum bleibt im Allgemeinen nicht unbeobachtet und kann daher von anderen mit relativ wenig Aufwand in Erfahrung gebracht werden. Wer einer Konfrontation stets aus dem Weg geht, mag dann unverletzt bleiben, er baut sich damit aber gleichzeitig ein Image als leichtes Opfer auf und wird somit umso eher zur Zielscheibe von Opportunisten. Wer sich dagegen ein paar Mal heftig gewehrt hat, dessen Reputation als Kämpfer schreckt Opportunisten ab, sodass er in Zukunft in Ruhe gelassen wird. Möglicherweise lohnt es sich also doch, sich zu wehren, obwohl es relativ hohe Kosten verursacht.

Evolutionäre Erklärungen

Kann das so funktionieren? Ist reputationsbasierte Abschreckung prinzipiell ein Mechanismus, der einerseits moralisch erscheinendes Verhalten hervorbringt und gleichzeitig im evolutionären Wettbewerb der verschiedenen denkbaren Verhaltensweisen Bestand hat? Um diese Frage zu beantworten, hat Hannelore De Silva gemeinsam mit mir an der Wirtschaftsuniversität Wien ein vereinfachtes mathematisches Modell entwickelt, das diesen Mechanismus nachbildet. Dieses Modell lässt sich mit den Werkzeugen der evolutionären Spieltheorie analysieren. Um die Robustheit der Resultate zu testen, haben wir zusätzlich agentenbasierte Simulationen durchgeführt, die mit realistischeren Annahmen arbeiten und die unsere Modellrechnungen schließlich bestätigen konnten. Die Arbeit ist kürzlich in der Fachzeitschrift PLOS ONE erschienen.

Das erste Zwischenresultat fällt dabei durchwegs negativ aus. Das von dem Evolutionsbiologen John Maynard Smith vor über 40 Jahren etablierte Standardverfahren zur Ermittlung möglicher evolutionärer Endzustände ist die Berechnung der sogenannten Evolutionär Stabilen Strategien (ESS). In unserem Modell gibt es allerdings nur eine einzige ESS, und das ist ausgerechnet jene Strategie, die direkt in die Anarchie führt: Alle potenziellen Täter verhalten sich opportunistisch, und die Opfer wehren sich nie. Hat reputationsbasierte Abschreckung also keine Chance, im evolutionären Wettbewerb zu bestehen? Wie sich im Zuge unserer weiteren Analyse herausstellte, kann sie sich trotzdem meistens durchsetzen. Sie ist zwar nicht streng stabil im Sinne einer ESS, doch die dynamischen Pfade der evolutionären Entwicklung bleiben stets in ihrer Nähe.

Von außen betrachtet verhalten sich unsere Agenten überwiegend wie wir selbst: Sie verzichten auf opportunistisches Verhalten und respektieren den Besitz ihrer Mit-Agenten. Die wenigen Ausreißer, die es doch mit Opportunismus probieren, treffen fast immer auf wehrhafte Opfer. Die opportunistische Strategie kann sich deshalb nicht durchsetzen und verschwindet wieder aus der Population. Tatsächlich handelt der Großteil unserer Agenten nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich "moralisch", zumindest in einem bestimmten Sinn. Sie lassen nicht etwa nur jene Individuen in Ruhe, die eine Reputation als Kämpfer haben, sondern sie ignorieren die Reputation ihrer Gegenüber völlig und lassen andere aus Prinzip in Ruhe. Es kommt ihnen also gewissermaßen gar nicht erst in den Sinn, anderen ihren Besitz streitig zu machen – genau wie in unserem echten Sozialleben.

Einen interessanten Haken hat die Sache aber doch noch. Die Information, die Opportunisten über die Reputation ihrer potenziellen Opfer einholen können, darf nicht zu exakt sein. Wissen Sie zum Beispiel nur über das Verhalten Ihres Gegenübers bei den letzten zwei oder drei Übergriffen Bescheid, so setzt sich reputationsbasierte Abschreckung locker durch. Können Sie dagegen sogar die Wahrscheinlichkeit sehr genau einschätzen, mit der das Gegenüber sich bei einem Übergriff wehren würde, so bricht der Abschreckungsmechanismus in Windeseile zusammen, und alles endet in reinster Anarchie. Ein Zuviel an Information kann also mitunter auch direkt ins Verderben führen. (Ulrich Berger, 22.6.2021)