Wird es manchen politisch zu bunt, wird derzeit gern in abfälliger Art und Weise von Identitätspolitik gesprochen.

Foto: imago images/JeanMW

Beim diesjährigen Bachmannpreis war das Wort oft zu hören: Identitätspolitik. Vor allem der Literaturkritiker und Bachmannpreis-Juror Philipp Tingler bemühte es. Immer dann, wenn ein Wettbewerbstext seiner Meinung nach eine politische Aussage treffen wollte, Menschenrechte, Migrationsgeschichten oder wenig repräsentierte Lebensgeschichten transportierte, dann war es ihm irgendwie zu "identitätspolitisch".

Und es war nie wohlwollend gemeint, sondern immer eine negative Anspielung: Wann immer Tingler den Begriff bemühte (und es war, wie gesagt, oft), dann klang es nicht wohlwollend. Ähnlich wie auch "politisch korrekt" oft einen negativen Beigeschmack erhält: dass es zu viel des Engagements sei, zu gutmenschenmäßig, der schriftstellerischen Kunst irgendwie nicht würdig. Tingler machte damit die Entwicklung sichtbar, dass "Identitätspolitik" gemeinhin als etwas "Überspanntes" oder "Übertriebenes" verstanden wird. Ähnlich wie vor Jahrzehnten, als die Abwertung von "politisch korrekt" begann. Auch der Begriff der "Identitätspolitik" wird inzwischen als eine diffuse Vorstellung von persönlicher Betroffenheit, Sprechverboten bis hin zur vermeintlichen Unterdrückung des weißen Mannes oder gar Zensur verstanden.

Sozial, keine Naturgewalt

Versuchen wir also, ein wenig Ordnung in dieses Chaos zu bringen, das derzeit viel Unsinn über "Identitätspolitik" in den Umlauf bringt. Was ist das eigentlich? Identität kommt aus dem Lateinischen und bedeutet, "derselbe" respektive "dasselbe", erklären Lea Susemichel und Jens Kastner in dem lesenswerten Buch "Identitätspolitiken", in dem sie sich mit linker Identitätspolitik befassen. Diese sei eine Reaktion auf Diskriminierung und darauf, dass einer bestimmten Gruppe bestimmte Eigenschaften zugeordnet werden.

Diese Eigenschaften sind freilich nicht vom Himmel gefallen, sondern sie werden Menschen einfach umgehängt, und diese dann deshalb als vermeintlich einheitliche Gruppe adressiert – ohne dass die betreffenden Menschen jemals selbst über die Zugehörigkeiten zu dieser Gruppe entschieden hätten. Sie stecken da nun drinnen – und werden deshalb diskriminiert. Sie "sind schwarz", sie "sind Frauen" oder sie "sind Ausländer". Dass man Menschen diesen Gruppen zuordnet, das ist also ein sozialer Prozess und keine Naturgewalt, der wir uns – ob wir wollen oder nicht – unterordnen müssten.

Notgedrungen widersprüchlich

Linke Identitätspolitik versucht nun, diese sozialen Prozesse eben genau als solche sichtbar zu machen. Und hierbei wird es notgedrungen etwas widersprüchlich: Mit selbstgewählten Begriffen wie etwa "People of Color" ordnet man sich einer Gruppe zu. Allerdings in einer selbstbestimmten Art und Weise. Doch warum sich überhaupt markieren, wenn doch alle gleich behandelt werden sollen? Nun, weil wir bekanntlich noch nicht in so einer Welt leben, in der es keine Diskriminierung wegen des Aussehens, des Geschlechts oder der sozialen Herkunft gibt. Diese Selbstbezeichnungen dienen auch als Erinnerung an die Tatsache, dass eben nicht alle gleich behandelt werden, dass wir aktiv Unterscheidungen treffen – und deshalb noch immer Diskriminierung existiert. Würden wir alle Begriffe jetzt schon abschaffen, die Identitäten beschreiben, könnten wir Diskriminierung nicht sichtbar machen. Alles, was wir jetzt tun können, ist also, zumindest die Beschreibung dieser Gruppen ihnen selbst zu überlassen.

Fehler auf allen Seiten

Das dahinterliegende Ziel ist aber, dass eben nicht mehr aufgrund von zugeschriebenen oder selbstgewählten Identitäten diskriminiert wird. Oder zumindest etwas weniger. Der Weg dorthin ist nicht einfach. Und genau deshalb brauchen wir zweierlei nicht: dass aus "Identitätspolitik" ein Kampfbegriff gemacht wird, der jegliche Versuche und Strategien zu Antidiskriminierung und Repräsentationen von Menschen gleich einmal als "übertrieben" plattwälzt. Oder sie wie auch schon bei "politisch korrekt" kurzerhand mit faschistischen Methoden gleichsetzt.

Der zweite Fehler betrifft aber nun "die andere Seite": Zweifel und Kritik an identitätspolitischen Strategien müssen diskutiert werden, und zwar ohne dass Kritiker*innen als Rassist*innen oder Sexist*innen bezeichnet werden. Sicher, es gibt jene, die vorgeben, sie würden nur das Wie kritisieren, die Sache an sich aber, Antirassismus oder Feminismus, sei ihnen durchaus wichtig. Aber trotzdem wolle man halt – sorry,, sorry – alles lieber so lassen, wie es ist. Das ist wenig glaubwürdig.

Aber dann gibt es nun einmal auch die guten und produktiven Einwände, und die müssen besser gehört werden. Ein Interview mit dem linken französischen Soziologen Didier Eribon zeigt, wie man differenziert und solidarisch Kritik an politischen Anforderungen übt, die man nicht für zielführend hält. Der Interviewer wollte wissen, ob er gendert und ob es denn die "woke Identitätspolitik" nicht zu weit treibe. Genau auf diese Spaltungslogik lässt sich Eribon nicht ein. Nein, er gendere nicht immer, nein, er könne mit dem Begriff "Identitätspolitik" nichts anfangen, und ja, er hält den Anspruch, dass man – etwa als "alter weißer Mann" – per se nicht für bestimmte Gruppen sprechen sollte, für eine Sackgasse. Und er nennt Gründe für seine Position: dass er den Begriff "Identitätspolitik" nicht verstehe, weil es doch gar nicht um "Identität" gehe, sondern um soziale und politische Bewegungen. Und manchmal müsse für jemanden gesprochen werden, wenn ansonsten diese Stimme ungehört bleibt.

Slogans statt Kritik

Eribon erzählt in dem Gespräch, dass er an einem Buch über seine Mutter arbeitet und schon vorab die Kritik erntete, er würde seiner Mutter die Stimme rauben. "Das ist albern", sagt er dazu – und es ist okay, das zu sagen. Würde Eribon die Geschichte seiner Mutter, die aus der Arbeiter*innenklasse stammt, nicht für sie erzählen, dann würde sie wohl nie geschrieben werden. Einwände wie diese zeigen die Schwächen mancher politischer Strategien auf – und mit diesen Schwächen muss man sich befassen. Auch wenn das Ziel, für das diese Strategien angewandt werden, noch so richtig ist.

Doch in dem aktuellen Diskursduktus werden auch von feministischer, antirassischer und linker Seite oft jene, die für dieselbe Ziele kämpfen, schnell und überhapps zu Feind*innen des im Grunde gemeinsamen politischen Projektes erklärt. Das ist nicht gut, denn so "verkümmert Kritik zum Slogan", wie Eribon zu Recht sagt. Dieser sloganhafte Stil begleitet uns ohnehin schon viel zu lange: Er kommt von rechter und auch von liberaler Seite, die die Anliegen nach Inklusion, nach einer starken Sozialpolitik und Antirassismus gern als Stalinismus und Faschismus diskreditieren und politische Strategien zur Inklusion als "PC-Terror" bezeichnen oder nun mit einem augenrollenden Verweis auf "Identitätspolitik" lächerlich machen.

Der Slogan-Stil hat aber auch jene erfasst, die sich für eine menschenwürdigere und diskriminierungsfreiere Zukunft einsetzen. Und er trifft unnötigerweise auch jene, die genau das Gleiche wollen. Und das ist besonders bitter. (Beate Hausbichler, 23.6.2021)