Stellen Sie sich vor Sie sind für Toleranz, gegen den Klimawandel sowie gegen Hass im Netz. Das sind doch sehr mutige und zivilcouragierte Standpunkte? Oder handelt es sich bei den oben genannten Werthaltungen und Meinungen um einen generellen Konsens, den viele von uns demonstrativ im Sinne der sozialen Erwünschtheit wie eine Monstranz vor sich hertragen? Ist es gar ein wesentlicher Bestandteil der österreichischen Seele bei der vermuteten Mehrheitsmeinung mitzuschwimmen, auch wenn man selbst im Inneren oft anderer Meinung ist?

Der Schriftsteller Thomas Bernhard behandelte in vielen seiner Werke und im Besonderen im Drama "Heldenplatz" wesentliche Facetten der alpenländischen Identität. Ein Element, welches scheinbar einige Österreicher charakterisiert, ist der österreichische Charme. Den österreichischen "Schmäh", das "einmalige Kulturgut Charme", wollte die Österreich Werbung sogar einst als Unesco-Weltkulturerbe erklären lassen. Böse, wer diesen speziellen "Charme" sehr sehr frei mit Sigmund Freuds Verständnis von Neurosen in Verbindung bringen würde und den erwähnten Charme als Spielball ebenjener oder als Abwehrmechanismus sehen würde. Unter einer Neurose verstand Freud eine psychische Störung, die durch einen innerseelischen oder einen zwischenmenschlichen Konflikt verursacht wird.

Die österreichische Seele reloaded

Der Vertreter der Individualpsychologie, Erwin Ringel, kam 1984 in seinem Buch “Die österreichische Seele“ zu dem Schluss, dass die Österreicherinnen und Österreicher ihre Kinder zu Neurotikern erziehen und überhaupt, dass dieses Land die Brutstätte der Neurose schlechthin sei. Er zog die Verbindung zu den damals hierzulande wichtigsten Erziehungszielen Gehorsam, Höflichkeit und Sparsamkeit. Ein Schelm wer Parallelen zu aktuell agierenden Führungspersönlichkeiten in Politik und Wirtschaft sieht. Jedoch ist nur schwer in Zweifel zu ziehen, dass die Kinder von einst nun an den Schalthebeln der Macht sitzen. In dem beschriebenen neurotischen Prozess sah Ringel weiters die Bereitschaft des Österreichers zu devotem Dienen und mehr noch zu vorauseilendem Gehorsam verborgen. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass Freuds Konstrukt des Über-Ich in diesem Zusammenhang wahrscheinlich ebenfalls eine zentrale Rolle spielt.

Sind wir charmant oder neurotisch?
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Der österreichische Charme als Abwehrmechanismus

So könnte man den berühmten österreichischen Charme, welchen viele Politiker gerne demonstrativ zur Schau stellen, eigentlich als besondere Form des Abwehrmechanismus verstehen. Stets höfflich, freundlich und charmant, egal wie es in einem selbst aussieht. Vielleicht kennt so manch einer diese Verhaltensweise von der Arbeitswelt. Die Lebensdevise “Nach oben buckeln, nach unten treten“, die im aktuellen Politgeschehen immer stärker an die Öffentlichkeit kommt, beschrieb schon der Schriftsteller Heinrich Mann in seinem Roman “Der Untertan“ treffend. Der international oft so beliebte Charme dient möglicherweise nur dem Schutz der individuellen Persönlichkeit, der Identität und des Seelenheils. Derart verstanden, kann man manchen Politikern ihre Verhaltensstile der aufgesetzten Höflichkeit und des guten Benehmens als Überlebensstrategie gar nicht übel nehmen. Sie kennen und können es eventuell gar nicht anders.

Der Erfolg des Bundeskanzlers und die österreichische Identität

Wir Österreicher haben die Qual der Wahl. Wollen wir weiterhin den immer höflichen Lieblingsschwiegersohn der Herzen - geradezu die Inkarnation des österreichischen Charmes - trotz gewisser Vorfälle in seinem Umfeld oder ist uns die leicht gouvernantenhaft-wirkende Ärztin und SPÖ-Chefin dann lieber? Als weitere Optionen gäbe es noch den oft nicht so gesitteten neuen FPÖ-Chef, die intelligent-eloquent-neoliberale Neos-Chefin sowie den authentisch-umgänglichen Vizekanzler der Grünen. Trotz aller Kritikpunkte ist Sebastian Kurz in seiner Art für eine relative Mehrheit der Menschen in unserem schönen Land noch immer die beste Wahl. Dies könnte aber mehr mit den Alternativen als mit dem Angebot des Kanzlers zusammenhängen. (Daniel Witzeling, 28.6.2021)

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