Im November 2019 erstelle ich einen Facebook-Gruppenchat. Ich entschuldige mich sogleich, dass es auf Facebook sein muss, aber meine engen Freunde kennen den Grund bereits: Lukas und sein Telefon aus der Zwischenkriegszeit, das keine moderne Kommunikation zulässt. Und ein Facebook-Profil haben sie dann eben doch noch alle, auch wenn sie es seit Jahren immer wieder löschen wollten. Die "Glasgow 2020"-Gruppe schmückt ein wunderbares Bild von Prince Charles im Schottenrock. Es sollte mich noch einholen, das Bild. Jeder bekommt einen blöden Spitznamen eingetragen, und schon jagt eine hektische Nachricht die andere.

Das Ziel!
Foto: EPA/Paul Ellis

Es gilt schnell zu sein: Wer rund um ein Großereignis nicht die 3er-Studenten-WG auf Airbnb für sieben Personen um schlanke 450 Euro pro Nacht samt "gemütlicher Schlafmöglichkeit" im Vorraum mieten will, bucht besser früh. Wir finden ein uriges, halbranziges Hotel im Stadtkern. Das einzig schöne Zimmer bekomme ich, weil mein Papa auch mitfährt, und keiner der Kumpels es wagen würde, ihn in eine der Absteigen einzuchecken.

Die Anreise wird individueller geplant, weil der eine von Graz aufbricht, die anderen aus Wien, Tirol und so weiter. Und für mich ist Glasgow ja sowieso nur ein Zwischenstopp. Vor Glasgow folgt die "Battle of Britain" in London zwischen den beiden Ur-Nationen des Fußballs, danach weiter zum Achtelfinale in Bilbao. Wenn der Flug keine Verspätung hat und ich den frühmorgendlichen Flug am Tag nach der Glasgow-Partie nicht versäume, schaffe ich auch noch das letzte Gruppenspiel in Nordspanien. Ein klassischer Panikkauf, als die Uefa-Uhr wieder einmal tickte. Egal, wird schon klappen. Der perfekte Sommer!

Alles zurück an den Anfang

Im März 2020 schreibt Christoph, dass er die Flüge storniert, und erntet nur ein paar genervte Daumen hoch. Das Turnier wurde soeben um ein Jahr verschoben, und ich ärgere mich, natürlich nicht den 30-Euro-Aufpreis für die Stornomöglichkeit im Hotel genommen zu haben. Wieso denn auch? Nichts würde uns schließlich aufhalten! Ich glaube, ich muss nicht weiter ausführen, was uns sehr wohl aufhielt. Ein Jahr lang herrscht hauptsächlich Stille im Chat. Ab und zu ein halblustiges Meme von den üblichen Verdächtigen (Selbstanzeige), ansonsten nur Durchhalteparolen.

Es ist 2021. Die Uefa beginnt langsam damit, mir per Mail Rückgabemöglichkeiten für die Tickets einzuräumen. Einen Teufel werd ich tun! Wieso auch? Im Sommer sind wir alle geimpft, und alles wird gut. Keiner der Kumpels will meine Euphorie so recht einbremsen. Insgeheim halten mich manche für naiv, planen ihre Urlaube bisweilen anders und wischen die Benachrichtigungen vom Smartphone. Ich schlage vor, die Karten zu behalten und zu pokern. Die einzige Reaktion ist ein Lady-Gaga-Pokerface-Gif. Ich verstehe das als Auftrag.

Ich nach der Kartenabsage der Spiele in London und Bilbao (Symbolbild).
Foto: imago images

Kurz darauf werden sämtliche Spiele in Bilbao abgesagt und mein London-Kontingent gestrichen. Die acht Tickets für Glasgow bleiben trotz der geringen Kapazität ohne Rückgabemöglichkeit aufrecht. Kurze Nachfrage, ob eh alle noch dabei sind. Der eine fragt, wann denn das Turnier eigentlich stattfindet. Ich könnt ausflippen! Drei springen ab und werden durch trinkfreudige Spontanurlauber ersetzt. Lukas ist nicht mehr dabei. Es kann also eine Whatsapp-Gruppe werden: "Glasgow 2021". Prince Charles ist nicht mehr dabei.

Ein anderer war schneller und hat ein fades EM-Ball-Bild genommen. Ich habe keine Muße, es auszutauschen, weil sogar in mir die Hoffnung langsam schwindet. Die Gründe: das Vereinigte Königreich, die sich ausbreitende Delta-Variante des Scheißvirus und die strenge Zehn-Tage-Quarantäne-Regel bei der Einreise, solange man nicht auf der grünen Liste steht.

Ein Bier mit Alan

Trotz sich gut entwickelnder Zahlen will Österreich nicht grün werden. Eine Woche vor Glasgow ziehe ich die Reißleine. "Ich versuche das Hotel zu stornieren und die Tickets am Schwarzmarkt loszuwerden", tippsle ich in die Gruppe. Sieben Daumen nach oben und ein paar traurige Smileys. Gefühlt 713 Nachrichten, dutzende Stunden Planung und Warteschlangen – alles umsonst. Was für ein Scheißsommer! Das Hotel lässt sich aber erstaunlich einfach stornieren. Wenn ich den Typen am Telefon richtig verstanden habe, will er mir einfach die Kohle überweisen. "Geil", denke ich mir, bekomme aber ein bisschen Fernweh bei dem fiesen schottischen Dialekt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die schottischen Fans (auch Tartan Army genannt) können nicht nur feiern und supporten. Sie können nach getaner Feierei auch zusammenräumen, wie sie am vergangenen Freitag am Leicester Square in London bewiesen.
Foto: AP/Kirsty Wigglesworth

Nun die vermeintlich große Hürde: acht Karten kurzfristig loswerden. Den anderen Kontinentaleuropäern geht es ähnlich, ich brauch also nur Briten zu fragen. Meine britischen Freunde sind aus London und Belfast – deren Fußballinteresse tendiert gegen null. Meine alten Kontakte zur Manchester-United-Fanszene helfen mir nicht weiter. Irgendwann bin ich so verzweifelt, dass ich zufällig irgendwelche Typen aus einer Schottland-Memorabilien-Facebook-Gruppe anschreibe. Ein paar sind skeptisch. Ein Österreicher, der in London lebt (habe Facebook nie aktualisiert), aber in Wien arbeitet und dann auch noch als Journalist, hat acht Tickets für Schottland gegen Kroatien? "Verarsch wen anderen!", schreibt mir Bryan.

Der Frust über die schwer verkäuflichen Tickets im Gesamtwert von 1.240 Euro steigt, und ich bekämpfe ihn mit der einzig rationalen Möglichkeit. Ich kaufe mir drei weitere Tickets für das Achtelfinale in Budapest. Die Verrückten füllen das Stadion zu 100 Prozent aus. Wir sind geimpft – Scheiß drauf. Endlich wieder richtiges Stadion-Feeling. Lukas ist wieder an Bord.

Dann bestätigt endlich der Administrator die Beitrittsanfrage für "Euro 2021 Tickets Market". Dann eine Freundschaftsanfrage von Alan. Alan trägt Schottenrock auf dem Profilbild und erinnert mich an Prince Charles. Alan hat mich auf Google gecheckt, er sagt, ich wirke "aufrichtig". Alan sagt, er hatte selbst abgesagte Tickets und stornierte Flüge. Er braucht eigentlich nur vier Tickets, nimmt aber alle acht. "Ich bekomme sie leichter an den Mann, mein Freund." Alan zeigt mir eine App, in der er mir ohne Wechselgebühren den kompletten Betrag überweisen kann. Fünf Minuten später ist das Geld da.

Alan und seine Freunde (Symbolbild).
Foto: imago images

Alan zeigt mir eine leichte Möglichkeit, die Tickets in der Uefa-App zu transferieren. Zwei Minuten später sind sie bei ihm. Alan sagt, er will mir ein Bier zahlen, wenn ich jemals in die Nähe eines schottischen Stadions komme. Alan bekommt zwei, falls er jemals nach Österreich kommt. Alan sieht aber eigentlich aus als könnte er auch acht trinken. Ich werde ihm acht bezahlen. Heute spielt Schottland gegen Kroatien um den Aufstieg ins Achtelfinale. Ich hoffe, sie schaffen es, ich hoffe es auch ein bisschen für Alan. Für mich aber geht es dann erstmal auf nach Budapest. Wir haben keinen Gruppenchat dafür gegründet. (Fabian Sommavilla, 22.6.2021)