Schwerkranker Patient auf einer Palliativstation: Ab kommendem Jahr wird das Gesetz nicht mehr verhindern, dass Sterbewillige Hilfe beim Suizid in Anspruch nehmen. Doch um die Regeln wird gerungen.

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Himmel und Hölle: Im Streit um die Sterbehilfe hält die Schweiz für beides her. Während der Verfassungsgerichtshof hierzulande erst im Dezember jenen Passus des Strafgesetzes aufgehoben hat, der Hilfe bei "Selbstmord" verbietet, ist assistierter Suizid im Nachbarland seit vielen Jahren gelebte Praxis. Doch an den Erkenntnissen daraus scheiden sich die Geister.

Es ist ein makaber anmutender Boom, auf den die Eidgenossenschaft zurückblickt: Nahmen 2003 nur 187 im Land wohnhafte Personen assistierten Suizid durch Verschreibung eines tödlichen Medikaments in Anspruch, so waren es 2018 bereits 1176. Gleichzeitig ist die Zahl der klassischen, "wilden" Suizide gesunken – aber bei weitem nicht im gleichen Ausmaß.

Genau da haken Kritiker ein: Zählt man beide Varianten zusammen, dann ergibt sich ein Anstieg um 50 Prozent. Mit 26 pro 100.000 Einwohner scheiden in der Schweiz damit deutlich mehr Menschen freiwillig aus dem Leben als in Österreich, wo die Quote bei knapp 14 pro 100.000 liegt.

Angebot schafft Nachfrage

Was lässt sich daraus lernen? Nichts Erfreuliches, urteilt Susanne Kummer. Die Leiterin des bei der Bischofskonferenz angesiedelten Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (Imabe) sieht sich durch das Schweizer Beispiel bestätigt. Wer die Tür zur Sterbehilfe öffne, hintertreibe Suizidprävention, kapituliere vor Problemen wie Alterseinsamkeit und schummle sich um die Aufgabe herum, Schwerkranken einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen: "Keine Gesellschaft kann sich glücklich schätzen, wenn die Zahl der Suizide explodiert."

Gesunken sei die Hemmschwelle vor allem bei Frauen, liest sie aus der Statistik heraus. Während der weibliche Anteil an den konventionellen Suiziden nur knapp 30 Prozent beträgt, liegt dieser bei der assistierten Variante bei 58 Prozent. Außerdem sei ein zentrales Argument der Befürworter widerlegt, sagt Kummer. Mitnichten bewahre die kontrollierte Möglichkeit Menschen davor, sich vor einen Zug zu werden oder auf andere – brutale – Weise umzubringen: "Vielmehr schafft das Angebot steigende Nachfrage."

Letzterem Argument will Erwin Wüest vom Schweizer Bundesamt für Statistik gar nicht widersprechen. Tatsächlich dürfte der Rückgang beim klassischen Suizid nicht auf die assistierte Alternative zurückzuführen sein, sondern vielmehr auf verbesserte Präventionsarbeit.

Den Leidensweg abkürzen

Darüber hinaus bringt Wüest aber null Verständnis dafür auf, den Boom als Ausdruck einer gescheiterten Idee zu interpretieren. Es sei schließlich Sinn der Sache, dass unheilbar kranke und alte Menschen – 88 Prozent sind über 65 Jahre alt – ihren von Schmerzen geprägten Leidensweg aus freien Stücken abkürzen können: "Sie wollen sich sauber im Kreis ihrer Lieben vom Leben verabschieden." Dass Frauen dabei in der Mehrzahl sind, liege schlicht daran, dass sie älter werden: "Männer sterben häufiger weg, ehe sich diese Frage überhaupt stellt."

Was gut sei und dem Menschen diene, werde eben stärker in Anspruch genommen, schließt sich Wolfgang Obermüller von der österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende (ÖGHL) an. Es sei vorbildhaft, wie die Schweiz das Selbstbestimmungsrecht hochhalte: "Die Menschen werden nicht gezwungen, gegen ihren Willen weiterzuleben."

Arzt verschreibt den Tod

Kritiker relativieren den freien Willen allerdings insofern, als Alte und Kranke unterschwellig unter Druck gesetzt werden könnten; schließlich fielen sie Angehörigen ebenso zur Last wie der Gesellschaft als Ganzes. Wie das die Schweiz zu verhindern versucht? Das Gesetz erlaubt Suizidhilfe nur, solange sie nicht aus "selbstsüchtigen Beweggründen" erfolgt. Die betroffene Person muss einen autonomen, wohlerwogenen und konstanten Sterbewunsch hegen – und den Akt eigenhändig ausführen. Ein Arzt darf das in der Schweiz verwendete rezeptpflichtige Mittel Natrium-Pentobarbital also verschreiben, aber nicht verabreichen

Eine andere Regelung fehlt hingegen. Ärztliche Suizidhilfe ist vom Gesetz her auch dann erlaubt, wenn die sterbewillige Person nicht schwerkrank ist. Allerdings haben die Sterbehilfevereine, über die laut Wüest fast alle in der Statistik verbuchten Fälle laufen, sich selbst Beschränkungen auferlegt. Es würden nur Menschen mit hoffnungsloser Prognose, unerträglichen Beschwerden oder unzumutbarer Behinderung in den Tod begleitet, heißt es beim Hauptanbieter Exit, eine ärztliche Diagnose sei Voraussetzung. In selten Fällen helfe man auch bei psychischen Leiden, wofür aber zwei unabhängige Fachgutachten vorgelegt werden müssten.

Regierung plant Regelwerk

Österreichs Regierung will sich nicht auf Selbstbeschränkung verlassen. Um einen Wildwuchs zu verhindern, arbeiten ÖVP und Grüne an einem Gesetz zur Regulierung. Als eine Grundlage wird am Montag der Bericht des im April abgehaltenen Dialogforums Sterbehilfe präsentiert – der Gesetzesentwurf soll entgegen früheren Ankündigungen von türkiser Seite aber erst nach dem Sommer vorliegen.

Es sei vernünftig, Standards und Kontrolle gesetzlich abzusichern, sagt Gabriela Stoppe, Präsidentin von Ipsilon, der Schweizer Initiative für Suizidprävention: "In der Schweiz ist das nicht der Fall."

Das tiefe Verständnis von Liberalität, das dem Individuum weitreichende Selbstbestimmung einräumt, unterscheide sich von der Kultur in Deutschland und Österreich, sagt Stoppe. Als die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, eine gebürtige Deutsche, 2003 in die Schweiz zog, habe sie sich nicht vorstellen können, jemals jemandem Hilfe beim Suizid zu empfehlen – und bis heute hofft sie, dass sich der Zulauf in Grenzen hält: "Wenn etwa behauptet wird, dass ein Demenzkranker nicht in Würde altern könne, dann widerspreche ich vehement."

Allerdings gelte es eines anzuerkennen: "So, wie es – von der künstlichen Befruchtung bis zur Wahl der Methode der Entbindung – längst eine Geburt à la carte gibt, ist nun einmal ein Bedürfnis nach der Gestaltung des eigenen Todes gewachsen." Statt dagegen anzukämpfen, sei ihr heute deshalb wichtiger, dass der assistierte Suizid nach einem geregelten Prozess ablaufe.

Undramatischer Anstieg

Dass das Angebot der Sterbehilfe, wie die Kritikerin Kummer glaubt, die Suizidprävention hintertreibe, sieht Stoppe nicht. Es handle sich wohl um verschiedene Gruppen: "Jene, die assistierten Suizid in Anspruch nehmen, sind oft sehr alte und kranke Menschen, die sich das lange überlegt haben. Beim klassischen Suizid geht es mehr um plötzliche Lebenskrisen, Depression und andere psychische Probleme. Diese Menschen machen das – leider – so wie bisher: Sie gehen ins Wasser, legen sich auf die Schienen, nehmen Gift."

Den starken Zulauf zum assistierten Suizid interpretiert Stoppe gelassen. Gemessen an der Gesamtzahl der Toten sei der Anteil ja immer noch nicht sehr groß, und sie bezweifle auch, dass sich der Trend so fortsetze. Es sei möglich, dass die nun alternde, sehr auf Selbstbestimmung bedachte 68er-Generation die Zahl besonders nach oben treibt beziehungsweise getrieben hat: "In den letzten Jahren hat sich aber schon eine Stagnation abgezeichnet." (Gerald John, 28.6.2021)