Die Katalanen werteten die Begnadigung als "ersten Schritt" in Richtung Versöhnung.

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Madrid/Barcelona/Straßburg –Die Anführer des Abspaltungsversuchs der spanischen Konfliktregion Katalonien vom Herbst 2017 sind trotz zahlreicher Proteste begnadigt worden. Die Maßnahme sei nötig, "um die Eintracht und das Zusammenleben wiederherzustellen", so der spanische Premier Pedro Sánchez am Dienstag in Madrid kurz nach einer Kabinettssitzung, auf der seine linke Regierung den umstrittenen Beschluss fasste. Sánchez betonte: "Wir wollen eine neue Etappe des Dialogs eröffnen. Die spanische Demokratie beweist ihre Größe."

Zur Kritik, die neun betroffenen Politiker und Aktivisten um den Ex-Vizeregionalchef Oriol Junqueras würden aus der Haft entlassen, obwohl sie weiterhin die Unabhängigkeit ihrer Region anstrebten, sagte er: "Es ist nicht nötig, dass die Begünstigten ihre Vorstellungen ändern. Wir erwarten nichts dergleichen. Tatsächlich waren sie nicht wegen ihrer Ideen eingesperrt worden."

Kritik der Konservativen

Die begnadigten Separatisten – sieben Männer und zwei Frauen – waren im Herbst 2019 im Zusammenhang mit dem illegalen Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017 unter anderem wegen Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder zu Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren verurteilt worden. Drei weitere verurteilte Politiker saßen ihre Strafen bereits ab.

Die Begnadigungen werden von der konservativen Opposition scharf kritisiert. Parteiführer sprachen unter anderem von einem "Schlag gegen die Demokratie" in Spanien und kündigten eine Anfechtung vor dem Obersten Gericht an. Vor gut einer Woche hatten in Madrid Zehntausende gegen die Freilassung der Separatisten protestiert. Aber auch viele Aktivisten und Vertreter der Regionalregierung sind unzufrieden: Sie weisen die Maßnahme als ungenügend zurück und fordern eine Generalamnestie, die Annullierung der Urteile von 2019 sowie grünes Licht aus Madrid für ein Unabhängigkeitsreferendum.

Verzicht auf Medienspektakel

Die Regierung in Madrid will möglicherweise verhindern, dass die Freilassung von neun katalanischen Separatisten zum Medienereignis wird. Spanischen Zeitungsberichten zufolge könnte es sich die Regierung zunutze machen, dass Kataloniens Ex-Vizeregionalchef Oriol Junqueras und die anderen Inhaftierten von ihren routinemäßigen Freigängen am Johannis-Feiertag (Sant Joan, 24.6.) am kommenden Donnerstag einfach nicht mehr ins Gefängnis zurückkehren müssen.

Nach dem Regierungsbeschluss muss zunächst König Felipe VI. seine Unterschrift darunter setzen. Das gilt allgemein als Formalsache. Anschließend gehen die Begnadigungen an das Höchstgericht. Dieses hat Informationen aus katalonischen Regierungskreisen zufolge bereits signalisiert, die Prüfung der einzelnen Begnadigungen möglichst schnell abschließen zu wollen. Es wird daher vermutet, dass ein entsprechender Gerichtsbeschluss bereits am Mittwoch ergeht. Somit würde das in den Medien kolportierte Szenario eintreten und der "visuelle Effekt" einer gemeinsamen Entlassung vermieden.

Beschluss des Europarats

Am Montag forderte der Europarat die spanische Regierung dazu auf, die gerichtliche Verfolgung katalanischer Politiker, auch solcher im Exil, einzustellen. Die parlamentarische Versammlung des Europarates (Pace) nahm entsprechende Empfehlungen in einem Bericht des lettischen Abgeordneten Boriss Cilevičs mit 70 Stimmen an. 28 Abgeordnete stimmten dagegen, zwölf enthielten sich der Abstimmung.

Die Gegenstimmen kamen vorwiegend von spanischen Abgeordneten fast aller Fraktionen, Vertretern der Türkei, die in Cilevičs' Bericht wegen der Verfolgung kurdischer Politiker ebenfalls kritisiert wird, sowie von Abgeordneten Serbiens und Russlands. Auch Vertreter weit rechts stehender Parteien aus verschiedenen Ländern stimmten dagegen.

Der Sozialdemokrat Cilevičs empfiehlt der spanischen Regierung in seinem über zwei Jahre hinweg erstellten Bericht außer der Freilassung aller politischen Gefangenen, der Aufhebung europäischer Haftbefehle und einer allgemeinen Amnestie für die Vertreter der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, die Strafrechtstatbestände Rebellion und Aufruhr, auf deren Grundlage die bisherigen Urteile gegen katalanische Separatisten gefällt wurden, zu reformieren. (APA, red, 22.6.2021)