Herbert Prohaska lacht am Telefon. "Ich weiß nicht, warum mich alle anrufen", sagt der 65-Jährige – und weiß es natürlich genau. Österreich steht bei der Fußball-Europameisterschaft im Achtelfinale und trifft dort am Samstag (21 Uhr) im Londoner Wembley-Stadion auf Italien. Jenes Land, in dem Prohaska Anfang der 1980er drei Jahre für Inter Mailand und die AS Roma spielte.

STANDARD: Wie schätzen Sie Österreichs Chancen am Samstag ein?

Prohaska: Die Italiener haben eine beeindruckende Bilanz, sie sind seit 30 Spielen ungeschlagen und blieben in den letzten elf Spielen ohne Gegentor. Aber sie haben bisher noch keine große Mannschaft geschlagen. Gegen Wales hat nicht mehr die Einsermannschaft gespielt. Gewonnen haben sie gegen schwache Türken. Super gespielt haben sie gegen die Schweiz, die in etwa mit uns vergleichbar ist. Wenn wir so spielen wie am Montag gegen die Ukraine in der ersten Halbzeit, dann haben wir eine Chance, auch wenn wir Außenseiter sind.

"Ich hatte in Italien keinen einzigen Mitspieler, der je gesagt hätte: 'Heute fahren wir über den Gegner drüber.'"
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STANDARD: Was zeichnet diese italienische Mannschaft aus?

Prohaska: Nach dem Verpassen der WM 2018 hat Trainer Roberto Mancini eine homogene Mannschaft geformt. Früher haben sie Superstars im Kader gehabt und die Medien haben diskutiert, wer spielen soll. Baggio oder Del Piero? Del Piero oder Totti? Das hat sich immer gezogen. Heute haben sie nicht diese Superstars, dafür viele Junge, Sassuolo hat drei Mann im Kader. Und Mancinis Fußball mit hohem Pressing ist atypisch für Italien.

STANDARD: Italiens Ruf basierte oft auf einer stabilen Defensive.

Prohaska: Es war nicht so, dass Italien immer auf eine Defensive gesetzt hat. Helenio Herrera galt in den 1960ern als Erfinder des Catenaccio (deutsch: Türriegel), aber als ich in Italien gespielt habe, galt Herrera als ultraoffensiv. Der hat mit fünf Stürmern gespielt. Italien hat halt immer gewusst: "Ok, hinten stehen wir bombensicher und vorne kriegen wir zwei, drei Chancen und unsere Superstürmer machen das eine oder andere Tor." In Italien war das Resultat oft wichtiger als die Leistung. Wenn die Mannschaft gewinnt und nicht gut gespielt hat, waren die Fans auch zufrieden. Heute ist das Team vorne und hinten gut.

Herbert Prohaska, hier beim 0:1 bei der WM 1978, traf nicht nur als Spieler, sondern auch als Teamchef auf Italien. Bei der WM 1998 bedeutete ein 1:2 das Aus in der Vorrunde.
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STANDARD: Hat Sie ein Spieler bisher überrascht?

Prohaska: Als Spielmacher Marco Verratti verletzt war, haben viele Leute nicht gewusst, wer statt ihm spielen soll. Ich habe gemeint, Manuel Locatelli ist um nichts schlechter und sogar torgefährlicher. Prompt hat er gegen die Schweiz zweimal getroffen. Jede Position ist doppelt besetzt. Wenn man dreimal gewinnt, ist die Stimmung bestens. Die Zeitungen können nicht mehr diskutieren, wer spielen soll oder nicht.

STANDARD: Nach der Niederlage gegen die Niederlande zählte die "Gazzetta dello Sport" Österreich zu den drei schlechtesten Mannschaften des Turniers.

Prohaska: Ich kenne die Mentalität der Italiener. Spieler oder Trainer würden so was nie sagen. Im Gegenteil, ich habe dort gelernt, jeden Gegner zu respektieren. Je höher man gewinnt, umso mehr hat man danach gesagt: "Wir haben fünf Chancen gehabt und fünf Tore gemacht." Ich habe bei Inter oder der Roma keinen einzigen Mitspieler gehabt, der je gesagt hätte: "Heute fahren wir über den Gegner drüber, der ist schlecht". Sie hatten Selbstvertrauen nach dem Motto: Wir müssen gut spielen und dann werden wir gewinnen. Aber abfällig wurde nie über den Gegner gesprochen.

STANDARD: Wie tickt die italienische Fußballseele im Vergleich zur österreichischen?

Prohaska: Stark übertrieben gesagt, ist Italien ein Fußballland und wir nicht. Bei uns gibt’s viele Menschen, die sich für Fußball interessieren, aber wir sind eher eine Skination. Die Italiener sind fußballverrückt. Auch wenn zu meiner Zeit die Eintrittspreise horrend hoch waren, waren die Stadien immer voll. In Italien redet jeder über Fußball, deshalb haben sie auch mit Corriere dello Sport,Tuttosport und La Gazzetta dello Sport drei Sporttageszeitungen. Bei uns gibt’s gar keine mehr, die letzte reine Fußballzeitung ist der Ballesterer.

STANDARD: Sie waren beim letzten österreichischen Pflichtspiel gegen Italien Teamchef, das 1:2 bei der WM 1998 besiegelte das Aus. Wie haben Sie dieses Spiel in Erinnerung?

Prohaska: Einige Spitzenspieler von Italien waren nicht mehr wirklich frisch, aber die Klasse hat noch immer ausgereicht. Damals hatten sie noch Del Piero, Vieri, Maldini und so weiter. Wir haben nicht schlecht ausgeschaut, aber es war schwer, gegen Italien ein Tor zu erzielen. Dort gibt es sechs, sieben Riesenklubs, für die jeder gerne mal spielen würde. Italien ist um ein x-Faches größer als wir, deshalb haben sie auch mehr gute Kicker. Das Schöne am Fußball ist ja: Eine kleine Chance hast du immer. Damit musst du spekulieren, ansonsten brauchst ja nicht mitspielen. Wenn du sagst: "Schau’ ma, dass wir nicht hoch verlieren", hast du den Beruf verfehlt.

STANDARD: Schlagen am Samstag zwei Herzen in Ihrer Brust?

Prohaska: Ich werde ewig Italien-Fan bleiben, aber am Samstag schlägt mein Herz für Österreich. Bei jedem Großereignis gibt es Mannschaften, die niemand auf der Rechnung hat. Die Griechen wurden 2004 Europameister. Ich sag jetzt nicht, dass Österreich Europameister wird, aber vielleicht hauen wir ja die Italiener raus. Das wäre großartig. (Andreas Gstaltmeyr, 23.6.2021)