Mehr als neun Milliarden Personen sollen im Jahr 2050 auf der Erde durch den Weltraum fliegen. Ein immenses Wachstum, denn erst um 1800 knackte die Weltbevölkerung die Eine-Milliarde-Menschen-Marke. Von unseren Vorfahren aus der Steinzeit lebten wohl nur wenige Millionen gleichzeitig. Dabei basieren ihre und unsere Gehirne auf den gleichen Voraussetzungen.

Dass uns das in der heutigen Welt zu schaffen macht, liegt auch an der Digitalisierung: Smartphones und soziale Medien sorgten in nicht einmal 20 Jahren für einen komplett veränderten Alltag.

Vor allem mit der enormen Informationsmenge sind wir extrem überfordert – so eine zentrale These des deutschen Neuropsychologen Lutz Jäncke, die er in seinem kürzlich erschienenen Buch "Von der Steinzeit ins Internet" ausführt. Jäncke, der an der Uni Zürich forscht und lehrt, zählt zu den am häufigsten zitierten Wissenschaftern weltweit.

"Wir müssen nicht unbedingt Vulkanier werden, aber sobald wir Menschen die Emotionskontrolle verlieren, bekommen wir Probleme", sagt der renommierte Neuropsychologe Lutz Jäncke.
Foto: Jäncke

Als solcher schätzt er an der digitalen Welt natürlich die Möglichkeiten des Wissensaustauschs, aber auch der Teilhabe und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Gleichzeitig will er für einen individuell aufgeklärten und selbstdisziplinierten Umgang mit der Onlinewelt appellieren. Denn unser Gehirn ist zwar nicht daran angepasst, verfügt jedoch über ein Instrument, das uns bei dieser schwierigen Aufgabe helfen kann – wenn wir es nicht vernachlässigen.

STANDARD: Der Mensch ist evolutionsbiologisch angepasst an soziales Leben in relativ kleinen Gruppen, Sie sprechen von etwa 40 Personen. Was bedeutet das heute für die Hunderte von Kontakten, mit denen wir über soziale Netzwerke verknüpft sind?

Jäncke: Wie andere Primaten bauen wir zu unseren Sozialpartnern Vertrauen und intensive Bindungen auf – gerade weil wir wissen, dass der Mensch auch ein egoistisches Wesen ist. Das läuft vereinfacht gesagt über gegenseitiges Gefallen, nach dem Prinzip "tit for tat", "wie du mir, so ich dir". Dieser Vertrauensaufbau ist fragil: Wenn er einmal gestört wird, dauert es lange, bis wir das reanimieren können. In sozialen Netzwerken gehen wir vermeintliche Beziehungen ein, die unüberschaubar sind. Bei tausenden Kontakten, die digital um uns herumschwirren, haben wir keine Zeit für eine solche Kontaktpflege, es sind einfach zu viele für unser Gehirn.

STANDARD: Wie erklären Sie die Unmengen negativer Kommentare, die gepostet werden?

Jäncke: In den Mechanismus, der uns Vertrauen und Bindung aufbauen lässt, steckt unser Gehirn unfassbar viele Ressourcen. Demzufolge haben wir mehrere Kommunikationskanäle: einen verbalen, einen für Gestik, Mimik und so weiter. Wenn diese Kanäle nicht mehr adäquat gefüttert werden, weil man andere Menschen nicht mehr physisch vor sich hat und sie nicht einmal kennt, fällt es vielen leicht, andere einmal eben zu beleidigen. Das kann zu ganzen Shitstorms führen.

STANDARD: Warum nehmen wir uns Negatives stärker zu Herzen als Zuspruch?

Jäncke: Weil es für uns überlebenswichtig ist, gefährliche Situationen oder Menschen um uns herum zu erkennen. Dann fällt es uns schwer, die positiven Rückmeldungen zu genießen, selbst wenn wir davon mehr bekommen. Neben den vielen wunderbaren Sachen im Internet nimmt meinem Eindruck nach der Bullshit – jeder noch so fragwürdige Erguss eines Menschen – exponentiell zu.

STANDARD: Und diese Mengen können wir auch nicht verarbeiten?

Jäncke: Ja, dadurch wird die Masse der Information unüberschaubar. Darin sehe ich eine große Gefahr für die Zukunft. Wenn Sie mit Infos vollgestopft werden, hängt es letztlich von Ihren individuellen Fähigkeiten, Wissenshintergründen und Neigungen ab, auf welche davon Sie sich verlassen. Das Gehirn ist darauf spezialisiert, sich auf wichtige Information zu fokussieren. Das ist bei dieser Menge aber nicht möglich.

STANDARD: Wie hängt die Informationsflut mit Problemen wie Fake-News und Verschwörungstheorien zusammen?

Jäncke: Die heutige Welt ist perfekt für Verschwörungstheoretiker. Skeptische Leute mit einem bestimmten oder fehlenden Wissenshintergrund greifen sich einzelne Aspekte heraus und konstruieren vor ihrem eigenen Hintergrund eine Welt, die für sie schlüssig erscheint. Unser Gehirn ist ja generell interpretationswütig und versucht, aus den wenigen Informationen, die wir aufnehmen, eine konstante Welt zu generieren. Man darf aber nicht vergessen, dass es auch Firmen wie Cambridge Analytica, Medien und Politiker gibt, die Rezipienten gerichtet beeinflussen. Da kann man sich fragen: Wo gibt es objektive Informationen? Allerdings zeigt sich dabei auch folgendes Problem: Alles, was wir Menschen an Information aussenden und von anderen empfangen, ist eigentlich interpretiert, gefärbt, subjektiv.

STANDARD: Wir sind also nicht für Objektivität gemacht.

Jäncke: Ja, im strengen Sinne können wir gar nicht vernünftig und objektiv sein. Ein Homo sapiens vor 70.000 Jahren wurde in eine Gruppe hineingeboren, die ihre eigene Kultur, Gedankenwelt, Religion und damit eigene Regeln entwickelt hat. Um zu überleben, musste man nicht nur eine gute Beziehung zu den Gruppenmitgliedern aufbauen, sondern sich auch in die Kultur einlernen – in individuelle Denkschemata, die Menschen einmal erfunden haben. So gesehen sind wir nicht für wissenschaftlich perfektes und logisches Denken konstruiert, was in der heutigen Zeit ein grundsätzliches Problem ist.

STANDARD: Wir sehen auch, wie schlecht unser Gehirn mit dem Verständnis großer Zahlen und exponentiellen Wachstums zurechtkommt.

Jäncke: Genau, das kann es nicht. Auch mit kleinen Zahlen können wir nicht umgehen, was wir in der Pandemie an der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten merken. Das ist zu abstrakt, wir begreifen die Verhältnisse nicht. Um das zu verstehen, brauchen wir eine besondere Ausbildung. Bildung hilft uns, unsere Beschränkungen ansatzweise in den Griff zu bekommen.

STANDARD: Sollte es nicht auch helfen, wenn wir uns die kognitiven Verzerrungen – wie etwa unsere selektive Wahrnehmung – immer wieder bewusstmachen?

Jäncke: Das ist ein guter Punkt. Und wir müssen den Frontalkortex, den uns die Natur geschenkt hat, wesentlich stärker nutzen, als wir es bereits tun.

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Der Frontalkortex, die Hirnrinde des hier violett gefärbten Frontallappens, kann Emotionen regulieren und ist wichtig für unsere Selbstdisziplin.
Foto: Sci-Comm Studios / Science Photo Library / picturedesk.com

STANDARD: Der Frontalkortex zählt zu den evolutionär neuen Gehirnteilen. Was ermöglicht er uns Menschen?

Jäncke: Im Gehirn steigen aus den Emotionszentren, dem limbischen System, gewissermaßen Impulse auf. Diese werden vom Frontalkortex reguliert. Das führt dazu, dass wir uns kontrollieren und Belohnungsverzögerungen eingehen können. Aber manchmal kommt es vor, dass wir etwas googeln, und ungeplanterweise wissen wir drei Stunden später – durch interessante Reize angeregt – nicht mehr, was wir ursprünglich gesucht haben. Das ist ein Indikator dafür, dass wir nicht mehr Frontalkortex-geleitet unsere Wahl treffen, sondern reizgesteuert Impulsen folgen.

STANDARD: Was wäre Ihr Lösungsansatz?

Jäncke: In Bezug auf die Internetnutzung müssten wir uns darin üben, selbstkontrolliert und mit fixierten Zielen zu arbeiten, uns auf das Wesentliche beschränken. Gerade für Kinder und Jugendliche, deren Frontalkortex noch nicht ausgereift ist, wäre das wichtig. Dieser Teil des Gehirns reift etwa bis zum 18. Lebensjahr, bis dahin ist ihre Selbstdisziplin und Aufmerksamkeitslenkung geringer. In dieser Zeit müssten wir ihnen erzieherisch durch Regelsysteme helfen, sich zu inhibieren und zu konzentrieren.

STANDARD: Das ist aber schon ohne die digitalen Ablenkungen hart.

Jäncke: Bei witzigen Videos und Bildern haben ja selbst Erwachsene Schwierigkeiten, den Reizen nicht nachzugeben; Kindern und Pubertierenden fällt das unfassbar schwer. Es würde aber uns allen helfen, weniger lustgetrieben zu handeln und stattdessen – auch im Hinblick auf die globalen Probleme – disziplinierter, ethischer, moralischer zu werden. Meine Überlegungen führten mich hier zur Serie "Star Trek – Raumschiff Enterprise".

STANDARD: Eine spannende Sozialutopie.

Jäncke: Der Erfinder Gene Roddenberry, der sie zur Zeit des Vietnamkriegs schrieb, schuf mit der Spezies der Vulkanier kontrollierte, logisch denkende Wesen. Mister Spock ist der berühmteste Vertreter. In der Fiktion waren Vulkanier einst auch emotional und kriegerisch, konnten ihre Krisen aber durch extreme Selbstdisziplin überstehen. Wir müssen nicht unbedingt Vulkanier werden, aber sobald wir Menschen die Emotionskontrolle verlieren, bekommen wir Probleme. Vor allem in der Zukunft.

STANDARD: Sie betonen auch, dass nur Homo sapiens eine besondere Fähigkeit zur Belohnungsverzögerung hat.

Jäncke: Ja, durch den großen Kortex. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Viele glauben, dass uns Emotionen zum Menschen machen. Das würde ich nicht so sehen, dazu sind auch Tiere fähig. Aber wir tendieren aktuell immer mehr zur Lustgetriebenheit statt zur Selbstdisziplin. Das alles soll nicht moralisierend klingen: Wenn wir Lustgewinn durch unseren Kortex erzielen, ist dieser nämlich viel größer als ohne.

STANDARD: Was bedeutet das?

Jäncke: Nehmen wir an, Sie würden mit Ihrer Lebensabschnittsgefährtin Rotwein trinken. Da können Sie sich eine ganz billige Flasche reinkippen, oder jede von Ihnen trinkt nur ein Glas Amarone, einen der besten Rotweine. Sie trinken dieses Glas langsam, schauen den Sonnenuntergang an, führen ein nettes Gespräch und essen vielleicht noch ein Stück Käse dazu. Das wäre ein hinausgezögerter, kognitiv verstärkter Lustgewinn – und das können in dieser Form nur Menschen. Solch einen fokussierten Genuss können wir auch trainieren und dem schlingenden Konsum vorziehen.

STANDARD: Und wenn man sich im Rahmen der Selbstkontrolle Räume für unvernünftigen Lustgewinn schafft, der anderen und einem selbst wenig schadet?

Jäncke: Das wäre eine Möglichkeit. Manchmal finde ich das Unvernünftige ja gar nicht so schlecht. Ich bin noch kein Vulkanier. Ich gucke manchmal ein Fußballspiel an und freue mich, wenn eine Mannschaft gewinnt, von der ich aus einer merkwürdigen Neigung heraus Fan bin. Das ist logisch gesehen völliger Unsinn, kann einem aber auch Freude geben. (Interview: Julia Sica, 26.6.2021)