Immer wieder demonstrieren Transgender-Personen weltweit für die Anerkennung ihrer Rechte auf Selbstbestimmung und Identität.

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Wenn die britische Philosophin Kathleen Stock zu einer Rede eingeladen wird oder öffentlich auftreten soll, gehen die Wogen hoch. Dann unterzeichnen hunderte Menschen Petitionen, die Stock laut ihrer eigener Wahrnehmung "mundtot" machen sollen. "Die Debatte wird abgewürgt. Wer sich traut, seine Meinung zu sagen, muss mit Diffamierungen rechnen", sagt Stock in einem Gespräch mit dem STANDARD.

Der Grund für die Kritik: Stock vertritt die umstrittene Meinung, dass Transgender-Frauen keine Frauen sind. Schon im vergangenen Jahr war die britische Harry Potter-Autorin J. K. Rowling nach einer ähnlichen Aussage einem veritablen Shitstorm ausgesetzt. Nun ist vor allem in Großbritannien erneut eine Diskussion entbrannt. Etliche Kritikerinnen bezeichnen Stock, die vor kurzem ein Buch zum Thema Geschlechtsidentität und Feminismus veröffentlicht hat, als Terf ("trans-ausschließende radikale Feministin"). Dabei dreht sich die hitzige Debatte im Kern um eine scheinbar einfache Frage: Wer gilt heute als Mann oder als Frau?

Kathleen Stock befürchtet, dass beim Thema Geschlechtsidentität die Meinungsfreiheit begraben wird.
Foto: Laerke Olsvig

Mehr Aufmerksamkeit und Akzeptanz

Völlig neu ist diese Frage freilich nicht. Spätestens seit den Werken der feministischen Autorin und Philosophin Simone de Beauvoir Mitte des 20. Jahrhunderts wird sie unter Wissenschafterinnen intensiv diskutiert. Was heute anders ist, ist die wachsende Aufmerksamkeit und Akzeptanz gegenüber Transgender-Personen, also beispielsweise jenen Menschen, die sich nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht identifizieren, wodurch das Thema, was Geschlecht bedeutet, für viele in ein neues Licht gerückt wird.

"Viele Menschen wollen völlig neu definieren, was es heißt, eine Frau oder ein Mann zu sein", sagt Stock. Es gehe dabei nicht mehr um biologische Faktoren, sondern nur mehr um einen "inneren Gefühlszustand". Ob sich jemand als Frau oder Mann identifiziere, sei entscheidender geworden als das biologische Geschlecht, kritisiert Stock. Aber nur weil sich jemand selbst als Frau oder Mann sehe, heiße das noch nicht, dass diese Person deshalb "objektiv" eine Frau oder ein Mann sei.

Freiheit und Selbstbestimmung

An dieser Aussage stoßen sich viele Transgender-Personen und jene, die sich für deren Rechte einsetzen. Sie sehen sich dadurch ihrer Freiheit und Selbstbestimmung beraubt.

Auch Cornelia Kunert kann mit Ansichten wie jenen von Stock wenig anfangen. "Wenn die Geschlechtsidentität nicht mit dem Körperbild zusammenpasst, kann dies sehr tiefgreifend sein", sagt die österreichische Psychotherapeutin zum STANDARD. In diesem Fall spricht Kunert von der sogenannten "konstitutionellen Geschlechtsinkongruenz": Die eigene Körperanatomie könne nicht in das im Gehirn verankerte Selbstmodell eingebettet werden, was zu einer ständigen Unruhe und Ablenkung führe. Dass es neurologische Gründe für diese Diskrepanz gebe, sei bereits in den 1990er-Jahren entdeckt und mehrfach wissenschaftlich belegt worden. "Mit konstitutioneller Geschlechtsinkongruenz wird man geboren", sagt Kunert.

"Hatte Gefühl, weiblich zu sein"

Kunert weiß aus persönlicher Erfahrung, wovon sie spricht. "Ich hatte schon in der frühesten Kindheit das Gefühl, weiblich zu sein", sagt sie. In der Schule habe man sie deshalb als Außenseiterin betrachtet. "Der ständige Versuch, dieses Gefühl in mir zu verdrängen, versetzte mich in depressive Stimmungen und manchmal auch Angstzustände."

Cornelia Kunert hat selbst eine Geschlechtsanpassung vollzogen.
Foto: Cornelia Kunert

Kurz vor ihrem 40. Lebensjahr habe sie den Mut gefasst, eine Geschlechtsanpassung vorzunehmen. "Im ersten Moment ist danach alles schwieriger geworden: Da kommen dann die Probleme in der eigenen Beziehung, in der Familie oder im Beruf, man wurde damals teilweise auf der Straße angefeindet. Trotzdem ging es mir danach besser. Ich habe diesen Schritt nie bereut."

Persönliche Erfahrungen

Kunert ist es wichtig zu betonen, dass man Geschlechtsidentität nicht nur an den medizinischen oder neurologischen Fakten festmachen sollte. "Es geht vor allem um die innere Erfahrung, die ein Mensch mit der ihm zugewiesenen Geschlechterrolle macht." Bei vielen Transgender-Personen liege nicht unbedingt eine konstitutionelle Geschlechtsinkongruenz vor, weshalb auch eine Hormontherapie oder chirurgische Geschlechtsanpassung nicht immer gewollt werde.

"Trotzdem sollten wir die individuell erlebte Geschlechtsidentität von Menschen respektieren und anerkennen." Denn die subjektive Erfahrung lasse sich niemals objektivieren. "Den Wunsch eines Menschen, als Frau oder Mann gesehen zu werden, nicht anzuerkennen halte ich im Grunde für ein Menschenrechtsproblem", so Kunert.

Angst vor Übergriffen

Kathleen Stock sagt, sie unterstütze die Idee, dass einige Menschen das Gefühl haben, nicht im richtigen Körper zu sein. Als lesbische Frau setze sie sich zudem dafür ein, dass die Menschenrechte von jedem respektiert werden. "Das Problem sind jene, die behaupten, dass eine Frau einfach ein Mann werden kann oder umgekehrt, und die Auswirkungen davon auf das öffentliche Leben", sagt Stock.

Sie bedient sich ähnlicher Argumente wie bereits J. K. Rowling: dass eine Öffnung öffentlicher Bereiche wie Toiletten oder Umkleidekabinen für Transgender-Frauen zu mehr Übergriffen auf Frauen führen könnte. "Jeder, der sich als Frau identifiziert, kann diese öffentlichen Räume nutzen. Das bedeutet, dass auch einige sexuell aggressive Männer schwerer fernzuhalten sind, da diese von Frauen nicht mehr schnell genug erkennbar sind."

Solidarisierung mit Transfrauen

Studien haben aber gezeigt, dass auch Transgender-Personen mehr Diskriminierungen ausgesetzt sind, wenn es ihnen nicht erlaubt ist, Bäder und Umkleidekabinen zu verwenden, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen. Stock fordert, für Transgender-Personen bei öffentlichen Räumen eine "dritte Alternative" einzurichten. Viele Expertinnen kritisieren das, da viele Transgender-Personen eindeutig Mann oder Frau sein wollen.

Cornelia Kunert kann das Argument der Gefahr für Frauen schwer nachvollziehen: "Wenn Frauen sagen, dass sie sich von Transgender-Frauen bedroht fühlen, dann glaube ich, dass sie nicht wirklich Transgender-Frauen meinen, sondern vielleicht Männer, die sich als Frauen verkleiden und einschleichen", so Kunert. Stattdessen sei es angebracht, dass sich Frauen mit Trans-Frauen solidarisieren, da Zweitere weltweit oft selbst von männlicher Gewalt bedroht seien.

Vielfältigeres Bild

Fest steht: Das Thema Transgender ist heute weit präsenter als noch vor einigen Jahren. "Ich erlebe, dass sich zunehmend auch jüngere Menschen an mich wenden, dass das Bild vielfältiger geworden ist", sagt Kunert. Auch die Zahl der Geschlechtsanpassungen habe in den vergangenen Jahren zugenommen.

Wie viele Transgender- und intergeschlechtliche Menschen es gibt, ist statistisch allerdings schwer auszumachen. Studien in den USA gehen von 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung aus.

Biologische Unterscheidung

"Für die meisten Menschen ist völlig klar, welchem biologischen Geschlecht sie angehören", sagt Stock. Für diese Menschen spiele das Thema Geschlechtsidentität deshalb kaum eine Rolle.

"Viele Frauen sagen nicht, dass sie sich wie eine Frau fühlen, aber wissen trotzdem, dass sie eine Frau sind." Wir hätten als Gesellschaft ein sehr großes Problem, wenn wir die biologische Unterscheidung zwischen Mann und Frau sowie die Tatsache, dass damit große Unterschiede verbunden seien, einfach aufgeben würden, so Stock.

Denn diese biologischen Unterschiede würden nach wie vor in vielen Lebensbereichen eine große Rolle spielen, etwa im Sport, in der Medizin und nicht zuletzt bei der sexuellen Orientierung und Fortpflanzung. "Viele Fakten, etwa dass Männer im Durchschnitt größer und stärker sind als Frauen und die Mehrheit der sexuellen Übergriffe auf Frauen verüben, sind offensichtlich, aber wir tun so, als würde es sie nicht geben", sagt Stock.

Fließendes Geschlecht

Während von konservativer Seite manchmal versucht werde, die Zeit zurückzudrehen und alle nur auf die Genitalien oder die Gebärmutter zu beziehen, sei das Thema Geschlecht in Wahrheit viel komplexer, so Kunert. "Es gibt bei der Geschlechtsidentität kein klares Entweder-oder. Geschlecht ist vielfältig und hat viele Aspekte."

Vielleicht werden wir in hundert Jahren überhaupt nicht mehr in derselben Form über Mann und Frau reden und verstehen, dass Geschlecht fließender ist, dass es keine klare Grenze gibt, sagt Kunert. "Heute würde man den Begriff Rasse auch nicht mehr so ohne weiteres verwenden. Aber nicht, weil wir alle gleich ausschauen, sondern weil wir erkannt haben, dass es biologisch gesehen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt." (Jakob Pallinger, 27.6.2021)