Viktor Orbán spricht für eine ganze Region – zumindest laut ihm selbst.

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Eigentlich hat der Begriff "Samisdat" ja mit Publizistik aus dem Untergrund zu tun. Aus dem Russischen frei übersetzt bedeutet er so viel wie "Selbstverlag". In den ehemaligen kommunistischen Diktaturen Osteuropas handelte es sich um oppositionelle oder zumindest nichtsystemkonforme Schriften, die – oftmals mit der Hand abgeschrieben, oftmals illegal kopiert – in regimekritischen Kreisen der Sowjetunion, der DDR, der Tschechoslowakei, Polens oder Ungarns zirkulierten.

Im Ungarn der Gegenwart gibt es nun wieder einen "Samisdat", wenngleich das Wort einen radikalen Bedeutungswandel erfuhr: Nicht die marginalisierte Opposition will sich hier Gehör verschaffen, sondern Premier Viktor Orbán selbst. Hintergrund: Orbán ist zwar ein mit Zweidrittelmehrheit ausgestatteter Regierungschef, sieht sich aber als Oppositioneller im Kampf gegen Europas Linke und eine durch sie definierte politische Korrektheit: "Statt der Pluralität der Meinungen wollen sie für sich die Meinungshegemonie", schrieb er jüngst in einem weiteren Beitrag des "Samisdat"-Newsletters, den Ungarns Außenministerium auf Deutsch auch an Redaktionen in Österreich verschickt.

Schrillende Alarmglocken

Anlass war diesmal die Kritik der EU an jenem Gesetz, das Aufklärung über Homosexualität erschwert und diese in die Nähe von Pädophilie rückt. "Die liberalen Dampfwalzen haben sich erneut gegen Ungarn auf den Weg gemacht", kommentiert Orbán. "Jetzt lassen sie die europäischen Alarmglocken wegen der die Pädophilen radikal bestrafenden und unsere Kinder auf radikale Weise beschützenden neuen Gesetze erschrillen." Anstelle der früheren Losung "Proletarier aller Länder vereinigt euch" heiße es nun wohl "Liberale aller Länder vereinigt euch".

Orbán meint übrigens, damit für eine ganze Region sprechen zu dürfen: Es sei eine "mitteleuropäische Überzeugung, dass heute der Liberale im Grunde der Kommunist mit Hochschulabschluss ist". (Gerald Schubert, 24.6.2021)