Der Autor Georg Biron beim Interview im Gutruf im ersten Bezirk: Man beachte links hinter ihm ein Foto von Udo Proksch, der gerade seine Suppe auslöffelt.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Herr Biron, Sie waren ein junger, neugieriger Reporter, als Sie sich vom 15. Bezirk hierher in den Ersten wagten und ins legendäre Lokal Gutruf in der Milchgasse eintauchten.

Georg Biron: Da drüben in den Tuchlauben auf Nummer 17 hat der Harald Irnberger die Redaktion für Das Magazin gehabt, Nachfolge vom ersten Extrablatt, bei dem hab ich gearbeitet. Um zwei, drei am Nachmittag war die Arbeit erledigt, dann hat man angefangen, herüber ins Gutruf zu gehen. Für mich als jungen Dichter und Reporter in seinen frühen Zwanzigern war das klass, da herinnen mit dem Herrn Qualtinger, den ich sehr verehrt habe, und den ganzen Trabanten zu verkehren und weiter drüben im Oswald & Kalb am Stammtisch gelitten zu sein, während dort der Bundeskanzler Sinowatz sein Rindfleisch aß, da konnte man daheim im 15. Bezirk sagen: Gestern hab ich mit dem Bundeskanzler gegessen. Geglaubt hat es einem eh keiner.

STANDARD: Es saß auch ein kleiner Mann mit dicken Sohlen an den Schuhen meist in der Ecke des Lokals, er hieß Udo Proksch.

Biron: Die dicken Sohlen trug er nicht, um größer zu sein, das war ein Ausdruck seiner demonstrativen Uneleganz. Alle, auch bei der SPÖ, die so abgeschleckt im Anzug in den Club 45 gekommen sind, waren ihm suspekt. Einmal hat er zu mir gesagt: "Mit denen allen hätten wir schon lang aufräumen sollen." Er war ein Feind des bürgerlichen Gestus, er hat sich absichtlich mit Stoffhose, Pololeiberl und kariertem Sakko gekleidet und nach Patschuli gerochen, und die dicken Sohlen hatte er nicht wegen seiner kleinen Gestalt, der konnte ganz gut leben mit seiner Kleinheit. Er war ja ein Energiebündel, das absolut fasziniert hat. Ich hab ihn 1980 kennengelernt, als ich ein Interview mit ihm machen wollte, da hab ich mit ihm normal geredet und mir gedacht: Bist du deppert, der hat was am Kasten, weil er so viele Themen anschneiden konnte, zu allem was zu sagen hatte, einen guten Schmäh gehabt hat. Mit dieser Bulligkeit eines Boxers, der sich immer so ein bisserl wie ein Linksausleger bewegt hat im Reden: "Das müss ma machen, oder? Und das auch, oder?" Irgendwann hat ihn einer gefragt: "Sie sagen so oft ‚oder‘, sind Sie ein Schweizer?" Und er hat gesagt: "Mir gehört die Schweiz, oder?" Der war beeindruckend.

STANDARD: Gegessen aber hat er wie ein Schwein?

Biron: Der Udo ist wie ein Landarbeiter über dem Suppenteller gehangen, mir hat das gefallen, weil es so ein Kontrapunkt war zum gesellschaftlichen Konsens. Sagen wir so, bis in die 70er-Jahre war das Kollektiv noch alles, in den 80ern begann der Egoismus, der Solotrip, auf die Gemeinsamkeit in der Gesellschaft wurde geschissen. Da sind damals verschiedene Sachen ineinandergewachsen, das Bermudadreieck in der Innenstadt ist aufgetaucht, der Satke hat da unten den Roten Engel aufgemacht, gegenüber der Fischer das Krah Krah, Wien hat auf einmal eine Szene gehabt. Früher hat’s gegeben Studenten, die sich in die Gosch’n g’haut haben, weil der eine für den Mao war und der andere für den Trotzki, ned? Damit einhergegangen ist so ein Modebewusstsein, Leute wie der Willi Resetarits sind auf einmal mit Rollschuhen am Stephansplatz herumgefahren, die jungen Männer haben Anzüge getragen, die jungen Frauen haben auch Anzüge getragen. Und dann gab es so Figuren wie den Proksch, dem das alles wurscht war.

STANDARD: Er hat Sie akzeptiert, Sie haben ihm gefallen?

Biron: Na ja, ich nehme schon an. Es gab aber mit Sicherheit keine verdeckte erotische Anziehung zwischen uns oder so was ...

STANDARD: Na geh ...

Biron: ... obwohl uns das auch angedichtet worden ist. Das war ein bissl wie väterliche Zuwendung, wenn er mir was erzählen wollte über die Welt. Ich hab oft das Gefühl gehabt, er hat an mir einen Narren gefressen, wir haben uns gesehen drei-, viermal in der Woche, manchmal eine Stunde, manchmal einen ganzen Abend. Und akzeptiert bin ich worden, weil er ja kannte, was ich geschrieben habe, ich war ja ab 1977 beim deutschen Playboy.

STANDARD: Sind Sie einander auf Augenhöhe begegnet?

Biron: Na, Augenhöhe! Es lagen 24 Jahre zwischen uns, für ihn war ich der "Boy". Aber er hat sich trotzdem für mich interessiert, für alles hat er sich interessiert. Als ich das Extrablatt gemacht habe im Jahr 1986, da hab ich die Zeitung von der Druckerei anliefern lassen ins Adressenbüro, die haben dort die Zeitung kuvertiert und frankiert, dann die Adressen drauf. Der Udo sagt zu mir: "Nimm mich mit, ich will wissen, wie das geht." Bin ich mit ihm in den zweiten Bezirk und runter ins Souterrain von dem Büro, da waren Frauen aus Jugoslawien, die die Arbeit gemacht haben. Er hat mit denen geredet, sich interessiert, die haben nicht gewusst, wer er ist. "Ist der Chef eh okay, wie lange arbeitet ihr, wie viele seids ihr?" Hat eine von den Dragicas gesagt: "Heute sind wir 31", ist er zum Telefon und hat seinen Bruder Rüdiger, der mehr oder weniger die Arbeit im Demel gemacht hat, angerufen und dem gesagt: "Schick mir 31 Sachertorten." Hat jede Arbeiterin von ihm eine Demel-Torte kriegt! Das hat mich beeindruckt.

STANDARD: Sind Sie in seinem Maserati Indy in den Zweiten gefahren, der später mit 75.889 Kilometern am Tacho um 80.500 Euro versteigert wurde?

Biron: Nein, das war schon vorher, als er darin vorm Sacher vorfuhr und dann drinnen den Kristallluster heruntergeschossen hat. In der Loos Bar hat er in den Plafond geschossen und den Kellnern die Glasln vom Tablett geballert, ein Irrer war er nämlich schon auch. "Der Krieg als der Vater aller Dinge ist das, was die Männer antreibt." Das war so ein Schas, den er da geredet hat, da haben wir ein paar Mal ziemlich gestritten. Da war er aus einer anderen Zeit mit seinen 38 Militärmänteln.

STANDARD: Die Frauen liebten ihn trotzdem. Hatte er eine gute Nachrede?

Biron: Also ich war nie dabei, wir haben keine Ziegel gemeinsam gemacht, nur damit es da keine Missverständnisse gibt. Aber er hatte ein gutes Echo! Von involvierten Damen hat man gehört, dass sie sehr angetan waren. Er war ein guter Ficker.

STANDARD: Gelesen hat er auch ein bisserl, den "Steppenwolf" und so?

Biron: Du kannst dir den Proksch nicht vorstellen, dass er da im Gutruf sitzt und ein Buch liest. Aber er hat viele Bücher gekannt, auch Filme, und oft hat er über einzelne Szenen geredet: "Heast, des is jo wie in dem Film von dem Cocteau, der war auch so ein blöder Kokser."

STANDARD: Es gab immer Gerüchte, er habe Nacktfotos aufgenommen im Club 45.

Biron: Natürlich ist der Club 45 auch dazu benutzt worden, dass dort irgendwelche Männer ihre schlampigen Verhältnisse gepudert haben, keine Frage, wo hätten sie auch hingehen sollen? Aber dass sie da aus einer zweiten Wand heraus fotografiert und erpresst worden wären, das ist nachgerade absurd. Und seine eigenen "Pornofotos"? Die hat er mir auf der Flucht in Manila gezeigt, das waren so Polaroids von Has’n, die für ihn die Beine gespreizt haben. Das waren für ihn sentimentale Erinnerungen, mehr nicht.

STANDARD: Wie kam es, dass Sie ihn auf seiner Flucht in Manila interviewen konnten?

Biron: Ich bin damals zum Wolfgang Fellner, der das Basta gehabt hat, und hab ihm gesagt: "Willst ein Udo-Interview?" Der Udo hat aber gesagt, mit dem Fellner redet er nicht, wenn es ein Interview geben soll, dann macht das der Biron oder keiner. Also haben sich die Anwälte wegen dem Timetable unterhalten, wie, wann, was, wo. Und dann ist der Fellner aus dem Büro rausgekommen, wo ich im Vorzimmer gewartet habe, und hat mich nicht einmal gegrüßt, weil er so angefressen war, dass ich da erster Klasse auf seine Kosten nach Manila fliege und nicht er, der Fellner. Aber so war das damals halt.

STANDARD: "Krone"-Adabei Roman Schließer hat vor Prokschs Verurteilung gesagt: "Ich trau es ihm nicht zu, dass er die Lucona versenken ließ." Was denken Sie?

Biron: Das beschäftigt mich bis heute. Ich hab mir gedacht, wenn einer so gepolt ist, dass er sich um die Adresspickerinnen aus Jugoslawien kümmert und ihnen Torten schenkt, so einer kann doch nicht die Lucona versenkt und sechs Matrosen umgebracht haben wegen Geld. Aber am Schluss, wie er dann eingesperrt war, bin ich mir schon alleine vorgekommen, da habe ich mich gefragt: Bin ich so deppert, dass ich dem jetzt jahrelang auf den Leim gegangen bin?

STANDARD: Hat er Ihnen gegenüber nicht reinen Tisch gemacht, unter Haberern?

Georg Biron: "Der Herr Udo. Das wilde Leben des Udo Proksch. 21 Euro / 150 Seiten. Wieser Verlag, 2021
Cover: Wieser

Biron: Na, eben ned! Das Arge war, dass ich erwartet habe, dass er beim Prozess hinausgeht und niederlegt: "Jetzt horchts zu, des und des und des war die Geschichte." Aber es ist nicht passiert. Er ist dort gesessen und hat sich den Frack umhängen lassen und ist dann in der Karlau am Scheißhäusl gesessen und war Gefängnisbibliothekar. Ich hab mir gedacht: Offenbar hat er die Strafe akzeptiert, und offenbar war der Vorwurf dann doch richtig, und ich bin die ganze Zeit falsch gelegen.

STANDARD: Wurden Sie danach als Proksch-Experte akzeptiert und kontaktiert?

Biron: Na, im Gegenteil, ich bin danach total geschnitten worden, weil ich als der letzte Mohikaner vom Proksch galt. Im Raum ist immer geschwebt, dass ich vom Udo bezahlt worden bin, um seine Unschuld zu vertreten, das hat der Worm vom Profil auch einmal so geschrieben. Den hab ich angerufen und ihm gesagt: "Sind Sie deppert? Ich hab vom Udo noch nie auch nur einen Schilling gekriegt!" Hat er gesagt: "Seien S’ ned so empfindlich, Sie teilen ja auch ganz schön aus!" Hab ich gesagt: "Na, da bin ich schon empfindlich, wenn Sie im Profil schreiben, dass ich käuflich bin!" (Manfred Rebhandl, ALBUM, 26.6.2021)