Furcht vor Hader schwächt die Anliegen der Demokratie. Streiten dagegen? Steigert die kognitive Kompetenz: Michel Friedman, Publizist.

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Es ist eine von vielen gefürchtete Gestalt, die der TV-geeichte Frankfurter Publizist und Rechtsprofessor Michel Friedman in seinem neuen Büchlein grandios rehabilitiert: der Streit. Streit, in die alten Begriffe von Zwietracht und Hader übersetzt, genießt seit der Antike den ruinösen Ruf einer notorisch zänkischen Frau.

Als Göttin der Zwietracht ist es eine gewisse Eris, die "Zank zu gemeinsamem Weh" in die Mitte der Gesellschaft streut. Sie vermehrt dadurch unweigerlich "das Geseufz‘ der Männer", wie es bei Homer – noch typisch patriarchalisch besorgt – heißt. Homer, der Epiker, galt überhaupt als Spezialist für Dissens. Mit der "Ilias" verfasste er, die Kränkung des Achilles besingend, ein Gründungsdokument entgleisender Streitkultur: über die kriegsrelevanten Folgen von "unheilbringendem Zorn".

Für uns Heutige scheint die Streitlust, auf einigermaßen zivile Debattentemperatur heruntergekühlt, Voraussetzung für gesellschaftliches Handeln überhaupt. Doch hat der Ruf der Diskursivität zuletzt Schaden genommen. Friedman, als Ex-CDU-Politiker und Funktionär deutscher jüdischer Organisationen streitgeprüft wie kaum ein zweiter, will jetzt für den verunglimpften Widerspruch öffentlich Partei ergreifen.

Er hat eine Streitschrift für den Streit geschrieben: "Streiten? Unbedingt!" heißt sein putzmunterer Essay. Im Grunde plädiert der Jurist für eine permanente Praxis der Aushandlung: für den ambitionierten Austausch gut begründeter Argumente in einem (idealerweise) herrschaftsfreien Raum.

Banalisierte Debatten

Während Philosophen wie Andreas Weber die Kunst, Kompromisse zu schließen, seit neuestem über den grünen Klee loben, sucht der Frankfurter Friedman Streit. Im Gespräch räumt er ein: "Wir erleben in den letzten Jahren einen Pseudo-Streit, und zwar auf zwei Ebenen. Auf der politisch-analogen Ebene treten Populisten mit Monologen hervor, die auf Lügen basieren: Sie erwecken dadurch lediglich den Anschein einer Streitkultur. Andererseits haben die sozialen Medien, eine relativ junge Erscheinung, zu einer Verrohung und Banalisierung von Debatten geführt."

Die Kränkung von Menschen, die sich abgehängt fühlen, von der "Mainstream"-Kultur missachtet, will Friedman ernst nehmen. Im Grunde macht der heute 65-Jährige die "kommunikative Vernunft" eines Jürgen Habermas alltagstauglich. Er hegt jegliche Form der Auseinandersetzung ein, setzt auf das Prinzip der Wechselseitigkeit. Friedman: "Der Streit setzt a priori die Anerkennung des jeweiligen Partners voraus: etwas, was Populisten durch ihre menschenverachtenden, gruppenbezogenen Aussagen mit Füßen treten. Die zweite Voraussetzung bildet die Bereitschaft, zuzuhören. Nur durch aufmerksames Zuhören entsteht Dialog. Die Aneinanderreihung von Monologen erzeugt hingegen narzisstische Schein-Streitigkeiten."

Viel Raum für Lügen

Lüge habe noch nie so viel Raum in der Debattenkultur eingenommen wie heute. Nur die wechselseitige Anerkennung von Tatsachen schaffe die Voraussetzung für nutzbringenden Streit. Friedmans Lieblingsbeispiel handelt von einem Streitpartner, der die Schwerkraft leugnet. An dessen Adresse gewandt, schlägt er vor: Sie springen von einem zehnstöckigen Gebäude herunter! Ich werde die zehn Stockwerke herunterlaufen. Unten angekommen, tauschen wir uns darüber aus, wer Recht behalten hat.

Friedman ist der Meinung, dass wir darüber zu verhandeln haben, worüber wir verhandeln. Vor den Blüten des identitätspolitischen Diskurses hegt er keine Furcht: "Im 21. Jahrhundert sind die Räume deutlich diverser und globaler. Viele Gruppen sind dadurch auch emanzipierter, haben sich Freiräume erarbeitet und sind respektierter. Das macht den bisherigen ,Playern‘ erst einmal Schwierigkeiten. Es gibt keine Dominanzen mehr in den Diskursräumen – weil die Minoritäten Selbstbewusstseinsprozesse hinter sich gebracht haben. Das ist gut."

Unverhandelbares

Grenzen des Streits sind dort gezogen, wo diskriminierende Narrative überhandnehmen. "Die A-priori-Anerkennung des Menschen ist unverhandelbar", so Friedman. "Hasssprecher können ihre Meinung frei äußern. Wir sollten nur die Kunst erlernen, ihnen zu widersprechen. Widerspruch ist unabdingbar. Wir in Europa stellen eine ganze Reihe von Beleidigungsformen unter Sanktion: Versuche von Volksverhetzung, die Leugnung des Holocaust." Kurze Pause: "Die Ahndung eines solchen Verhaltens ist nicht antidemokratisch. Sondern die Demokratie nimmt sich selbst ernst."

Heute misstraut Michel Friedman vornehmlich Demagogen, die ihre Einlassungen mit "ich glaube…" einleiten. Sein Gegenvorschlag: Kognitiv bleiben. Hellwach bleiben. Nur durch das Streiten finden die Leute zusammen. Friedmans Lieblingsidee: ein Unterrichtsfach "Streitkultur" für alle Schulformen. (Ronald Pohl, 26.6.2021)