Apple vs Android: Das ist Brutalität.

Foto: Apple / Google

Wer hat's erfunden? Eine Frage, die gerade in der Techwelt ein verlässlicher Quell für angeregte Diskussionen ist. Hat da Firma A gerade ernsthaft ein Feature von Firma B gestohlen? Oder war es bei näherer Betrachtung eigentlich genau umgekehrt? Und war da nicht noch Firma C, die schon vor Jahrzehnten eine ähnliche Funktion entwickelt hat? Solche Diskussionen sind sicher vielen der Leserinnen und Leser zur Genüge bekannt.

In dieser Situation ergibt es sich trefflich, dass Apple und Google gerade neue Generationen ihrer Smartphone-Betriebssysteme vorgestellt haben. Android 12 und iOS 15 sollen zwar genau genommen erst im September erscheinen, erste Testversionen gibt es aber schon, also lassen sich die darin enthaltenen Neuerungen gut vergleichen. Das eröffnet die Möglichkeit, endlich einmal die Frage aller Fragen zu klären: "Wer hat mehr von wem geklaut?"

Bereit? Los geht's!

Android 12 kopiert iOS

Beginnen wir mit jenen Neuerungen in Android 12, bei denen sich Google ganz offensichtlich von iOS hat "inspirieren" lassen. Und dabei sticht vor allem ein Thema heraus, bei dem Apple seit Jahren zuverlässig die Vorreiterrolle einnimmt: die Privatsphäre.

Mit Android 12 ist es künftig möglich, selbst zu entscheiden, ob eine App den genauen Standort erfahren oder doch nur eine ungefähre Positionierung erhalten soll. Die Idee dahinter: Viele Programme, die solch einen Zugriff wollen, brauchen gar nicht wirklich die exakte Position der Nutzer. So muss etwa eine Wetter-App nur in etwa wissen, wo man sich gerade befindet, um automatisch die korrekten Informationen anzeigen zu können.

Der Umgang mit der Standortberechtigung unterscheidet sich bei iOS (links) und Android mittlerweile kaum mehr.
Grafik: Apple / Google

Eine feine Sache also, die Apple-Usern allerdings irgendwie bekannt vorkommen dürfte – gibt es doch exakt das Gleiche bereits in der aktuell stabilen Version der Software für iPhones, also iOS 14. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sich Google Änderungen bei der Standortberechtigung von Apple abschaut. Über die Jahre hat man praktisch alle diesbezüglichen Privacy-Verschärfungen mehr oder weniger direkt kopiert.

Klarheit über Mikrofon und Kamera

Eine weitere Privatsphärenverbesserung in Android 12: Greift eine App auf Kamera oder Mikrofon zu, wird dies über klar erkenntliche Icons in der Statuszeile symbolisiert. Wer aufgepasst hat, den wird das Folgende jetzt wenig schockieren: Auch dieses Feature gibt es in iOS 14 bereits. Die Umsetzung in Android geht zwar noch einen Schritt weiter, indem der betreffenden App an besagter Stelle auch gleich die zugehörige Berechtigung entzogen werden kann, das Grundkonzept bleibt aber das Gleiche. Genau das selbe lässt sich über die Warnungen vor dem Zugriff auf den Zwischenspeicher sagen, die mit iOS 14 eingeführt wurden und nun ebenfalls in Android 12 angezeigt werden.

Der Mikrofon-Indikator in der Umsetzung von Google.
Screenshot: Proschofsky / STANDARD

Eigentlich ist es nicht wirklich ein Thema neuer Softwaregenerationen, sondern der Regeln um den jeweiligen App Store, aber weil es gerade so gut dazupasst: Auch jene Privacy Labels, die Apple vor einigen Monaten verpflichtend für alle Programme eingeführt hat, baut Google nach, wie das Unternehmen Anfang Mai verkündete. In Zukunft müssen also Android-Apps ebenfalls im Detail angeben, welche Daten sie wofür sammeln und was davon dann mit Dritten geteilt wird. Ab Anfang 2022 sollen diese Angaben im Play Store ausgewiesen werden, ab dem zweiten Quartal 2022 wird das Ganze dann verpflichtend für sämtliche Entwickler. Das heißt: Wer sich danach nicht an die neuen Regeln hält, kann einfach keine neuen Versionen mehr für seine App veröffentlichen. Alles also gut ein Jahr später als bei iOS, im Kern aber das selbe.

Ein Hin und Her bei Widgets

Doch es sind nicht nur Privacy-Dinge, bei denen Google von Apple lernt. Ein schönes Beispiel ist das Thema Widgets: Zwar bietet Android schon deutlich länger als iOS Support für Widgets, die Apple-Implementation in iOS 14 hat Google nun aber dazu gebracht, sein eigenes System von Grund auf neu zu überdenken. Dazu gehört nicht nur eine optische Generalüberholung, es gibt auch frische Schnittstellen für Entwickler und somit erweiterte Möglichkeiten.

Am Rande: Das Thema Widgets eignet sich generell hervorragend für "Wer hat's erfunden"-Diskussionen, können in diesem Fall doch weder Android noch iOS den Anspruch stellen, diese Idee als Erstes gehabt zu haben. Entsprechende Lösungen gab es im Laufe der Zeit für praktisch jedes Betriebssystem. Der aktuellste Eintrag in dieser Riege ist das gerade erst angekündigte Widget-Comeback in Windows 11. Die erste Implementation dürfte allerdings tatsächlich auf eine der beiden Smartphone-Firmen zurückgehen – in diesem Fall Apple. Die "Desk Ornaments" wurden bereits Anfang der Achtzigerjahre für den ersten Macintosh entwickelt. So ist zumindest der aktuelle Wissensstand des Autors, wer hier eine frühere Implementation kennt, bitte um Ergänzungen im Forumsbereich.

Apple klaut ebenfalls gern

Zeit, die Perspektive zu wechseln. Welche Dinge also hat Apple für iOS 15 von Google und Android geklaut? Verzeihung: "Wo hat sich Apple inspirieren lassen?", soll das natürlich heißen. Da mag jetzt manch eingeschworener Apple-Fan denken: Das kann nur eine sehr kurze Liste sein, Apple erfindet doch alles selbst! Wer dermaßen tief in der Wahrnehmungssphäre von Apple-Präsentationen verfangen ist, der sollte sich vor dem Weiterlesen zur Sicherheit anschnallen.

Links: Live Text. Rechts: Google Lens.
Foto: Apple / Google

Unter dem Namen "Live Text" bietet iOS 15 ein wahrlich beeindruckendes Feature: Die Wunder des Maschinenlernens ermöglichen es, dass künftig direkt aus der Kamera heraus Texte identifiziert werden können. Man kann dann also etwa die Kamera auf ein Firmenschild zu richten, um die dort zu sehenden Details in Folge kopieren und speichern zu können. Doch damit nicht genug, ist es auch möglich, Kunstwerke und Sehenswürdigkeiten zu identifizieren. Alles tolle Dinge, und doch: In Wirklichkeit handelt es sich dabei um einen kaum kaschierten Klon des schon länger erhältlichen Google Lens – allerdings einen, der deutlich weniger Funktionen bietet als das Vorbild. Zumindest hat Apple in seine Implementation einige nette Extras eingebaut, etwa die Möglichkeit, eine bei solch einer Analyse gefundene Telefonnummer direkt anzurufen – also ohne diese Informationen manuell herumkopieren zu müssen.

Siri endlich offline

Es ist eine der wichtigsten Verbesserungen für die Privatsphäre in iOS 15: Mit der neuen Softwareversion kann die Spracherkennung von Siri nun vollständig offline funktionieren. Wo entsprechende Befehle bisher in die Cloud hochgeladen und dort ausgewertet wurden, kann dies nun alles direkt am Smartphone vorgenommen werden. Ein durchaus signifikanter Fortschritt – also zumindest für Apple-User. Denn in der Android-Welt können das schon jetzt zahlreiche Smartphones, erstmals gab es dieses Feature bei Googles Pixel 4 zu sehen – also vor fast zwei Jahren.

Apple Maps ist seit Jahren eine fixe Größe, wenn es um den Nachbau von Google-Features geht. Das ist auch in iOS 15 wieder so. Ein besonders deutliches Beispiel ist etwa eine Augmented-Reality-Ansicht, bei der mithilfe der Smartphone-Kamera Wegweiser für die Navigation über das Realbild geblendet werden. Bei Google Maps gibt es das schon länger, die Funktion heißt dort "Live View", kann aber noch einige Dinge mehr als die Apple-Lösung.

Alle Ähnlichkeiten sind rein zufällig.
Foto: Apple / Google

Benachrichtigungen und Fotos

Die Verdienste Apples um die Weiterentwicklung der Smartphone-Welt sind weitgehend unbestritten, mit einem Bereich hadert das Unternehmen aber schon seit Jahren: Benachrichtigungen. Mit iOS 15 lässt man sich einmal mehr von Android inspirieren, Dinge wie die Möglichkeit, Nachrichten stumm zu schalten oder auch eine automatische Kategorisierung gibt es auf der Google-Seite der Smartphone-Welt schon einige Zeit. Allerdings muss man fairerweise betonen, dass Apple dies mit zusätzlichen Ideen wie dem "Focus Mode" – der sich automatisch an den Aktivitäten der Nutzer orientiert – sowie einer eigenen Zusammenfassung für die wichtigsten Benachrichtigungen kombiniert.

Bliebe noch Apple Photos: Für dieses hat Apple allerlei Neuerungen für ein "Erinnerungen" getauftes Features angekündigt, das automatisch Bilder gruppiert und dann in nostalgische Geschichten zusammenfasst. Das gibt es zwar schon länger, Apple fügt nun aber neue Features und Szenarien hinzu, die eines gemeinsam haben: Praktisch alles davon gibt es schon bei Google Photos. Auch die optische Umsetzung in einer Story-artigen Oberfläche wurde weitgehend angeglichen – auch wenn natürlich weder Apple noch Google den Anspruch erheben können, das entsprechende Interface-Konzept erfunden zu haben. Das war Instagram. Nein, falsch: Snapchat natürlich.

Nur ein Ausschnitt

Zum Schluss noch eine wichtige Anmerkung: Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – so könnte man bei einer strikten Auslegung sogar technische Details wie Beschränkungen für Vordergrunddienste in Android 12 als von iOS inspiriert ansehen. Bei anderen Dingen ist es wiederum schwer, wirklich herauszufinden, wer jetzt von wem kopiert hat. So gibt es sowohl in Android 12 als auch iOS 15 einen neuen Bereich – hier "Privacy Dashboard", dort "App Privacy Report" genannt –, der offenlegt, welche App wann auf welche Berechtigung zugegriffen hat. Die Vorstellung passierte also praktisch zeitgleich, in einer – nicht öffentlichen – Android-Testversion war Ähnliches aber schon im Vorjahr zu sehen. Dafür bietet die Apple-Lösung jetzt mehr Details, verbuchen wir das in Summe also mal als ein Patt.

Nicht immer ist klar, wer von wem kopiert hat. Android 12 hat ein Privacy Dashboard (im Bild), fast zeitgleich haben Google (Privacy Dashboard) und Apple (App Privacy Report) sehr ähnliche Funktionen für ihre Systeme vorgestellt.
Foto: Proschofsky / STANDARD

Ebenfalls ausgeblendet wurden die umfangreichen Designänderungen in Android 12, die unter dem Namen "Material You" laufen. Warum? Weil es gerade bei solch oberflächlichen Dingen nicht immer eindeutig klarzumachen ist, wer jetzt was von wem übernommen has, was eine Kopie ist, was zufällige Ähnlichkeiten sind oder auch eine gezielte Referenz. Wer bei Android 12 genauer hinschaut, wird jedenfalls sicher einige Elemente finden, die an andere Systeme erinnern, allerdings mehr an Windows Phone oder auch Samsungs One UI denn iOS. Also zumindest sieht das der Autor dieses Textes so. Mit einem gut gewählten Screenshot lassen sich aber sicher auch viele Ähnlichkeiten zur iPhone-Software belegen.

Eine endgültige Antwort

Kommen wir endlich zur Auflösung der den Artikel umrankenden Frage: Wer hat also mehr vom Gegenüber geklaut? War es Google? Oder doch Apple? Darauf gibt es genau eine richtige Antwort, und die lautet: Es ist vollkommen, aber auch so was von vollkommen egal. Denn in Wirklichkeit profitieren alle Seiten von diesem regen Austausch der Ideen. Um es auf den aktuellen Vergleich zurückzuführen: Wer Android verwendet, darf Apple indirekt für diverse aktuelle Privacy-Verschärfungen dankbar sein. Wer wiederum iOS nutzt, bekommt mit der nächsten Version so manches Feature, das es ohne Google als Ideengeber wohl nicht gegeben hätte. Und das ist auch alles gut so. (Andreas Proschofsky, 4.7.2021)