Der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel, der selbst mit einem Mann verheiratet ist, ging mit seinem ungarischen Amtskollegen Viktor Orbán besonders hart ins Gericht.

Foto: AFP/Olivier Hoslet

Es wurde mal wieder heftig diskutiert in Brüssel.

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Bevor es in der Europäischen Union nach einem turbulenten Pandemiejahr in die Sommerpause geht, haben die 27 Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Brüssel am Freitag einige wichtige Dinge auf den Weg gebracht. Laut Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gibt es Entspannung in den Beziehungen zur Türkei. Aus dem EU-Budget werden dem Land bis 2024 etwa 3,5 Milliarden Euro an Hilfen für Flüchtlinge aus Syrien zur Verfügung gestellt, und der EU-Türkei-Pakt wird erneuert, zusätzlich fließen 2,2 Milliarden nach Jordanien und in den Libanon.

Mit Ankara wird eine Zollunion angestrebt. Man vereinbarte die Verschärfung der Russland-Politik inklusive der Sanktionen. Der Vorschlag von Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, es solle trotzdem einen Dialog und ein EU-Treffen mit Präsident Wladimir Putin geben, wurde nach einer hitzigen Debatte aber abgelehnt, weil Balten und Polen das nicht wollen.

Auf Vorschlag von Bundeskanzler Sebastian Kurz soll es sehr bald eine Gipfeldebatte zur Schweiz-Politik der EU geben. Und man wird ab sofort versuchen, das Abflauen der Corona-Infektionen zu nützen, um Europas Wirtschaft in Schwung zu bringen. EZB-Chefin Christine Lagarde sicherte "den Chefs" weiter eine lockere Geldpolitik zu.

Regeln und Werte

Man könnte also meinen, die EU-Spitzen hätten genug zu tun. Das Treffen wurde atmosphärisch dennoch komplett überschattet von der Auseinandersetzung mit Ungarns Premier Viktor Orbán wegen des jüngst beschlossenen Gesetzes, das Informationen über Homosexualität für Jugendliche unter 18 unter Strafe stellt. Nach Auffassung der Kommission ist es eine klare Verletzung von EU-Regeln und -Werten. Präsidentin Ursula von der Leyen nannte es "eine Schande" und leitete ein Verfahren gegen Budapest ein. Als Ratspräsident Charles Michel das Thema am Donnerstag zur Debatte stellte, nachdem 17 Regierungschefs inklusive Kanzler Kurz in einer Erklärung ihren Willen zum Ausdruck gebracht hatten, gegen jede Diskriminierung zu kämpfen, kam es beinahe zum Eklat.

Angeführt von Luxemburgs Premier Xavier Bettel, einem bekennenden Homosexuellen, der mit seinem Ehemann vor Jahren eine Visite bei Orbán absolviert hat, fegte ein Sturm der Entrüstung über den Ungarn hinweg. Diplomaten berichteten hinterher, einen derart emotionalen, von persönlichen Angriffen geprägten Streit hätten sie bei einem Gipfel noch nie erlebt.

Vonseiten Michels hieß es, dass sich praktisch alle Regierungschefs beteiligten und außer den Premiers von Polen und Slowenien niemand Orbán in dieser Sache verteidigte. Der liberale niederländische Premier Mark Rutte forderte die sofortige Rücknahme des Anti-LGBTQI-Gesetzes und den "Respekt vor Menschenrechten". Das sei "nicht verhandelbar". Öffentlich hatte er noch erklärt, dass die EU keine Möglichkeit habe, Ungarn auszuschließen. Im Saal schleuderte er Orbán entgegen, er möge doch – wie die Briten – selbst Artikel 50 der EU-Verträge nützen und den Austritt aus der Union vollziehen, wenn er deren Werte und Regeln nicht teile.

"Du warst einmal ein Liberaler, was ist aus dir geworden?", soll Macron zu Orbán gesagt haben – eine Anspielung darauf, dass der Ungar vor 30 Jahren einer der Helden der (damals) liberalen Fidesz-Bewegung war.

"Rote Linie überschritten"

Besonders emotional ging Xavier Bettel in die Debatte: Wenn Orbán behaupte, das Gesetz solle Jugendliche beschützen, sei das eine besonders perfide Begründung: "Ich bin nicht schwul geworden, ich bin es einfach. Das ist keine Frage der Wahl", sagte er vor allen Regierungschefs. Das Gesetz sei eine Stigmatisierung. "Ich respektiere dich, aber da ist die rote Linie überschritten. Es geht um Grundrechte, das Recht jedes Menschen, anders zu sein", erklärte Bettel.

So wie Parlamentspräsident David Sassoli erinnerte der Luxemburger daran, dass die EU Ende 2020 einen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus eingeführt hat, der Kürzungen von EU-Mitteln vorsieht, wenn ein Staat die Grundrechte und Werte der EU verletzt: "Meistens überzeugt Geld mehr als Sprache", sagte Bettel, der die Anwendung der Sanktion befürwortet.

Laut von der Leyen ist das eine Möglichkeit. Zunächst müsse die EU beim Vorgehen gegen Ungarn selbst die Regeln einhalten. Die Regierung Orbán habe nun die Gelegenheit, auf den Brief der Kommission, in dem die Korrektur des diskriminierenden Gesetzes verlangt wird, zu antworten. Davon hänge das weitere Vorgehen der Kommission ab. (Thomas Mayer, 25.6.2021)