"Ehrlich gesagt fremdle ich aktuell ein bisschen. Dieses Bussi links, Bussi rechts, das will ich noch gar nicht", erzählt Natalie Kosch. Die 35-Jährige ist noch sehr zurückhaltend mit ihren Begegnungen. "Ich bin stillende Mutter und noch nicht geimpft, es gibt noch keine Empfehlung dafür. Klar, man macht Tests, aber trotzdem habe ich zwei, drei Tage nach jedem Treffen ein ungutes Gefühl, achte auf mögliche Symptome. In den vergangenen 15 Monaten wurde uns einfach so viel Angst gemacht, da ist es schwer, die wieder loszuwerden."

So wie der Wienerin geht es derzeit vielen. Das Phänomen hat sogar schon einen Namen: Re-entry Anxiety. "Viele Menschen stellen sich die Frage, wie sie nach so langem Abstandhalten in den sozialen Raum zurückkehren. Welche Regeln gelten da jetzt? Wie viel Nähe ist in Ordnung, und will ich die überhaupt? Wie gehe ich damit um, wenn meine Bedürfnisse nicht respektiert werden? All diese Fragen machen die Situation zu einer Art Minenfeld, auf dem man sich nicht frei bewegen kann", erklärt Birgit U. Stetina, klinische Psychologin und Vorständin der Psychologischen Universitätsambulanz an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien.

Traumatisches Ereignis

"In den vergangenen Monaten wurde uns so viel Angst gemacht, da ist es schwer, die wieder loszuwerden." Natalie Kosch (35)
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Die Pandemie ist tatsächlich ein traumatisches Ereignis, ähnlich dem plötzlichen Verlust einer nahen Person oder einer existenzbedrohenden Krise. Mit dem Unterschied, dass sie nicht nur Einzelne getroffen hat, sondern alle. Sämtliche gesellschaftlichen Normen wurden neu strukturiert. Und wie die einzelnen Menschen damit umgehen, war und ist sehr unterschiedlich.

Das hat auch Kosch festgestellt: "Ich habe eine enge Freundin durch die Pandemie verloren. Sie hat Covid-19 geleugnet, ich habe es realistisch gesehen. Wir wollten uns trotzdem treffen, und ich habe sie gebeten, davor einen Test zu machen. Das hat ein großes Drama ausgelöst. Ich habe anfangs versucht, ihre Einstellung zu respektieren, auch wenn ich sie nicht geteilt habe. Aber wenn ich merke, da ist kein Respekt für meine Bedürfnisse, dann hat die Freundschaft keinen Sinn mehr."

Corona als Spaltpilz

Covid-19 hat nicht nur Freundschaften belastet, es hat ganze Familien gespalten. Das berichtet etwa Simon L. (Name geändert): "Nach dem Lockdown-Ende haben wir beschlossen, ein Familientreffen zu machen. Alle haben sich getestet, es wurde vereinbart, dass die Pandemie kein Thema sein wird, um vorhersehbare Konflikte zu vermeiden."

Doch natürlich haben sich nicht alle daran gehalten. "Die Frau meines Bruders hat die Beschränkungen irgendwann einfach ins Lächerliche gezogen. Sie hat mich auch persönlich angegriffen, weil ich sie verteidigt habe. Klar, unser Verhältnis war nie das Beste. Aber aktuell habe ich den Kontakt abgebrochen. Meinen Bruder würde ich zwar treffen, aber nur alleine", erzählt der 53-jährige Salzburger.

"Die Frau meines Bruders hat mich persönlich angegriffen, weil ich die Corona-Beschränkungen verteidigt habe." Simon L. (53)
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Erlebnisse wie das beschriebene haben auch damit zu tun, dass viele die Ereignisse des vergangenen Jahres noch gar nicht einordnen können. Die emotionale Überforderung macht sich Luft, indem man den eigenen Frust über andere drüberkippt.

Stetina bestätigt: "Vor allem in der Krise können sich viele Menschen nicht mit den eigenen Gefühlen auseinandersetzen, die kognitive Leistungsfähigkeit der Reflexion ist reduziert. Man befindet sich ja in der klassischen Kampf- oder Fluchtreaktion." Nur dass diese Situation jetzt schon bald eineinhalb Jahre besteht. Das hat viele Menschen überfordert, mittlerweile werden deutlich mehr Depressionen und Angststörungen diagnostiziert.

Jetzt lässt der Druck nach, und man sollte meinen, viele Probleme lösten sich wieder auf. Doch bei manchen ist das Gegenteil der Fall, weiß Stetina: "Tatsächlich kommt jetzt eine neue Belastungswelle. Manche haben die ganze Zeit funktioniert, und jetzt, wo es entspannter wird, schauen sie zurück und realisieren erst, wie schlimm das eigentlich war. Das ist vergleichbar mit dem Phänomen, dass manche Menschen in der Arbeit immer funktionieren, egal wie viel Stress gerade ist, aber am ersten Tag im Urlaub werden sie krank."

Freundschaften neu ordnen

Für viele war die Pandemie aber auch die – ungeplante – Gelegenheit, ihren Freundeskreis zu überdenken. Denn durch die wiederholten Lockdowns hat sich die Anzahl der vertrauten Kontakte und engen Beziehungen automatisch auf eine Handvoll Menschen reduziert. "Man konnte sich still aus Freundschaften, die sich vielleicht schon auseinanderentwickelt hatten, verabschieden und generell seine zwischenmenschlichen Beziehungen neu ordnen", beschreibt Barbara Rothmüller eine Situation, die viele Menschen erlebt haben. Die Soziologin hat in einer Studie den Einfluss von Covid-19 auf die sozialen Beziehungen untersucht.

"Die Pandemie hat mich dazu gebracht, genauer darauf zu achten, welche Freundschaften mir guttun." Achim Astecker (42)
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Genau das berichtet Achim Astecker: "Ich habe definitiv festgestellt, dass sich einige Freundschaften in den vergangenen Jahren totgelaufen haben. Sehr deutlich ist das geworden bei den Favoriten in meinem Telefonspeicher. Da sind ja nur die drin, mit denen man regelmäßig Kontakt hat. Ein Uraltfreund tauchte da bald nach Beginn der Corona-Zeit einfach nicht mehr auf. Ich habe mich bei ihm nicht gemeldet, aber umgekehrt ist auch nichts gekommen, man hatte sich nichts zu sagen."

Dafür hat der 42-jährige Oberösterreicher neue Kontakte geknüpft. "Wir sind erst vor eineinhalb Jahren in unsere Siedlung gezogen, also kurz vor der Pandemie. Aber da war von Anfang an sehr viel Gemeinschaftsgeist, man hat uns gleich eingebunden. Unsere Nachbarn sind schon richtig gute Freunde geworden. Die Pandemie hat mich dazu gebracht, genauer darauf zu achten, welche Freundschaften mir guttun."

Dass die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen viel wichtiger geworden ist, bestätigt auch Soziologin Rothmüller: "Gerade durch Social Media ist in den vergangenen Jahren bei einigen eher die Quantität der Freunde wichtig gewesen. Da ging es um viele Likes und Kommentare. In der Pandemie haben einige erkannt, wie wichtig intime Vertrauensbeziehungen sind. Natürlich konnte man Kontakte über Social Media aufrechterhalten. Aber viele haben das als sehr unbefriedigend erlebt. Man kann über Video einen Streit nicht so gut klären oder Emotionen spüren. Bei unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass viele auch die freundschaftliche Umarmung enorm vermissen."

Erwartungsdruck loslassen

"Nach dem Lockdown haben meine Mitbewohnerin und ich viel gestritten. Sie hat sich vernachlässigt gefühlt." Viktoria S. (24)
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Lockdownbedingt haben sich die regelmäßigen Kontakte bei vielen auf eine oder sehr wenige Vertrauenspersonen beschränkt. Die Vertiefung intimer Beziehungen haben manche auch als sehr beglückend erlebt. "Jetzt lockert sich das wieder und man kann viel "new relationship energy", also neue Beziehungsenergie beobachten, ein Phänomen, das man eigentlich von polyamoren Beziehungen kennt. Die engen Vertrauten treffen nun neue Menschen, haben Spaß mit ihnen. Der anfängliche Enthusiasmus, der bei interessanten neuen Begegnungen entsteht, ist aber nicht als Bedrohung oder Konkurrenz zu den tiefen Vertrauensbeziehungen zu sehen, auch wenn es manchmal so empfunden wird. Sondern eher eine schöne Ergänzung, über die man sich mit der Person gemeinsam freuen kann", beschreibt Rothmüller.

"Mitfreude statt Eifersucht können Menschen allerdings am ehesten empfinden, wenn sie wissen, wie wichtig einem die tiefe Freundschaft trotz neuer Bekanntschaften ist." Und Bekanntschaften entlasten eine enge Freundschaft auch: "Hat man nur eine oder wenige Vertrauenspersonen, wird oft erwartet, dass sie alle Bedürfnisse abdecken. Das kann auch überfordern, weil das meistens eine Person gar nicht leisten kann. Bei einem größeren Freundeskreis kann man aufteilen, mit wem man was gerne machen möchte. Das mindert den Erwartungsdruck, der sonst auf nur einer Person lastet, enorm."

Diese Erfahrung hat auch Viktoria S. (Name geändert) gemacht. "Während des ersten Lockdowns bin ich mit meiner Wohnungskollegin sehr zusammengewachsen, wir haben alles gemeinsam gemacht. Das waren sehr schöne Wochen. Aber als man sich wieder entspannter mit anderen treffen konnte, haben wir auf einmal ständig gestritten. Irgendwann habe ich festgestellt, dass das immer dann passiert ist, wenn ich alleine andere Freunde getroffen habe", erzählt die 24-jährige Tirolerin.

"Ich habe das angesprochen, und sie meinte, sie habe das Gefühl, ich vernachlässige sie. Wir haben uns dann gut aus gesprochen, und ich bin sehr froh, dass die Situation geklärt ist. Jetzt passt alles wieder, und im zweiten Lockdown haben wir darauf geachtet, dass es nicht mehr so weit kommt."

Diese Aussprache soll man suchen, egal, warum man sich auseinandergelebt hat, wenn einem eine Freundschaft wichtig ist. Das betonen sowohl Rothmüller als auch Stetina. Denn: "So ein klärendes Gespräch tut gut und kann auch wirklich helfen, die Belastungen der Pandemie zu verarbeiten." (Pia Kruckenhauser, 26.6.2021)