Theologin Michaela Quast-Neulinger schreibt in ihrem Gastkommentar über die immer wiederkehrende Debatte über die Liberalisierungen im Handel. Sie spricht von einer "gnadenlosen Kapitalisierung menschlicher Arbeitskraft".

Seit Jahren fordern große Handelsketten und Lobbyisten eine sogenannte "Liberalisierung" der Ladenöffnungszeiten wie der damit verbundenen Arbeitszeiten. Gemeint sind natürlich nur die Arbeitszeiten des Ladenpersonals, nicht jene des höheren Managements oder gar der werbenden Polit- und Wirtschaftslobbyisten. Auch in der Corona-Pandemie hat es nur wenige Monate gedauert, bis die Stimmen für längere Öffnungszeiten inklusive Sonntagsöffnung laut wurden.

Illustration: Michael Murschetz

Die Argumente in der Debatte sind meist nicht neu. Österreich hinke im Vergleich mit den Nachbarländern nach. Hinter den Grenzen könne man grenzenlos shoppen. Touristen würden es fordern und viel Geld im Land lassen. Der Megaplayer Amazon lasse dem stationären Handel keine andere Wahl. Öffne sonntags oder schließe für immer! Als Ausgleich für die Corona-Schließungen müsse der Sonntag jetzt fallen, mindestens probeweise. Hygienetechnisch wäre dies wunderbar, verteilte Kundenströme, weniger Infektionsgefahr. Und schließlich würden viele auch gern an Feiertagen oder zu Randzeiten arbeiten. Im Dezember 2020 ließ Rewe-Österreich-Chef Marcel Haraszti im STANDARD-Interview wissen: "Sie können sich nicht vorstellen, wie viele unserer Mitarbeiter gern hier arbeiten würden, Studenten etwa nach der Uni. Die Zuschläge erhöhen den Verdienst deutlich. Wer nicht will, soll aber nicht länger arbeiten müssen." Zwei, drei Leute könnten sich den Arbeitsplatz teilen, alles wäre einfach viel flexibler, leichter, finanziell attraktiver. Für wen?

Bloß Humankapital

Was in der beständig wiederkehrenden Debatte als "Liberalisierung" bezeichnet wird, ist lediglich ein Euphemismus für die gnadenlose Kapitalisierung menschlicher Arbeitskraft, die letztlich in der Degradierung des Menschen zum bloßen Humankapital mündet. Besonders für den Lebensmittelhandel gilt: In der akuten Phase der Krise wird das Fell gekrault, werden Belohnungen versprochen für das Aufrechterhalten der Versorgung, doch sobald es wieder zu laufen beginnt, ist der Mensch in der Handelswelt vergessen. Was bleibt, ist das Humankapital, nennen wir es Herr Huber oder Frau Gruber.

Das Kapital "Huber/Gruber" bäckt gerne flexibel von 5 bis 7 Uhr am Morgen die Weckerln auf, kommt um 14 Uhr wieder ins Geschäft, weil gerade viel los ist, bis 16 Uhr und dann spontan um 19 Uhr noch mal, weil eine große Lieferung da ist. Wenn Huber/Gruber Notfallkontakt ist, hat er/sie vielleicht das flexible "Glück" eines nächtlichen Kühlalarms, um den sie/er sich kümmern muss. Meist wohnt Huber/ Gruber nicht ums Eck, sondern pendelt in den Laden. Die Pause? Offiziell ja, aber zahlt sich gar nicht aus bei dem langen Weg. Lieber aufholen, was sich in der offiziellen Arbeitszeit nicht ausgegangen ist.

Vielleicht warten zu Hause Kinder, zu versorgende Angehörige. "Liberalisieren" wir gerne weiter. Dann aber mit ebenso "flexibel-liberaler" 24-Stunden-Betreuung für alle ab 0 bis 100, sieben Tage die Woche und quer durchs Land. Damit hätten wir auch gleich wieder mehr Arbeitsplätze geschaffen. Vereinsarbeit und Ehrenamt müssten wir dann ebenso "neu denken" wie alles, was bislang als "Familie" bezeichnet wurde. Alles wird erneuert, flexibler, liberaler und vor allem steuerbarer. Vielleicht passt es zur "neuen Normalität"? Wo der Mensch zum bloßen Humankapital degradiert wird, hat dieser keine Zeit mehr, Gemeinschaft zu stiften, zu diskutieren, nachzudenken. Es wird alles leichter, vor allem für das Management von oben.

Flexibilisierung, Liberalisierung – von diesen Forderungen profitieren letztlich vor allem jene, die an den Schalthebeln eines Systems sitzen, das sich vom konkreten Leben in all seinen Prekaritäten entfremdet hat.

Großer Druck

Wie viele von jenen, die nach dem Shoppingerlebnis 24/7 rufen, haben selbst über Jahre (nicht als Studentenjob oder im Traineeship auf dem Weg nach oben) hinweg als einfache Handelskraft gearbeitet? Oder als Kinder ihre Eltern kaum noch gesehen, weil diese "flexibel" sein "durften" oder "wollten"? Wie viele haben den immer härteren Druck zwischen den Ladenregalen oder im Warenlager erlebt? Die Frotzeleien ausgewählter Kundinnen und Kunden, die Beschwerden jenseits aller Rationalität?

Es gibt sie auch, die guten Arbeitgeber, die netten Kundinnen und Kunden. Aber der Handelsalltag ist hart. Corona hat ihn nochmals verschärft. Die messianisch verheißene Belohnung für die tausenden Handelsangestellten? Flexibilisiert euch. Profitieren werden wenige, die großen Namen der Branche, ein paar Einkaufszentren. Den bitteren Preis hingegen werden viele bezahlen, vor allem jene in Handelsberufen vor Ort. Letztlich aber wir alle. Denn welche Gesellschaft ist es, deren letztes Ziel das ultimative Shoppingerlebnis ist? Was bedeutet die absolute Verfügbarmachung der Menschen, zumindest jener, die als Kapital zu dienen haben? Die Online-Handelsriesen wird eine "Liberalisierung" nicht in die Schranken weisen. Zur politischen und rechtlichen Gestaltung einer digitalisierten Arbeitswelt, die der Würde aller Menschen angemessen ist, fehlen aber der Mut oder der Wille. (Michaela Quast-Neulinger, 26.6.2021)