Ausweg gesucht: Aida (Jasna Ðuričić) mit dem UN-Offizier Thomas Karremans (Johan Heldenbergh).

Foto: Polyfilm

Jasmila Žbanić: "Die meisten Kriegsfilme zeigen den Krieg so, wie Männer ihn verstehen."

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Vor dem UN-Stützpunkt suchen 30.000 Flüchtlinge Zuflucht, doch nur einem Bruchteil von ihnen wird Einlass gewährt. In Sicherheit sind auch sie nicht lange, wenige Tage später werden mehr als 8000 bosnische Männer und Jugendliche von serbischen Soldaten abtransportiert und ermordet. Darunter befindet sich auch die Familie von Aida (Jasna Ðuričić), die als Übersetzerin für die Vereinten Nationen arbeitet.

In Jasmila Žbanićs Quo vadis, Aida? ist sie der erzählerische Dreh- und Angelpunkt eines Dramas, in dem die Tage vor dem Völkermord von Srebrenica als Kampf gegen eine unbewegliche Bürokratie ausgetragen werden. Aida kämpft wie eine Löwin für ihre Landsleute, für ihre Familie, für das Überleben, während der serbische Armeekommandant Ratko Mladić (Boris Isaković), der später wegen Kriegsverbrechen verurteilt wird, mit den niederländischen UN-Soldaten einen faulen Deal schließt.

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Žbanić, die selbst den Krieg miterlebt hat, ist mit Quo vadis, Aida? das seltene Kunststück eines Kriegsdramas gelungen, in dem sich Spannung und analytische Schärfe nicht ausschließen. Der Film zeigt, wie menschliche Schwächen und Systemversagen zu einer vermeidbaren Katastrophe führen.

Zugleich bezeugt der von der österreichischen Coop 99 mitproduzierte Film mit der von Ðuričić großartig verkörperten Aida auch einen unbeugsamen menschlichen Geist. Ein Gespräch mit der Regisseurin über ihre Sicht des Krieges und die politischen Folgen von Srebrenica.

STANDARD: Sie sind während des Krieges aufgewachsen. Was hat Sie dazu bewegt, nach einer gültigen Repräsentation von Srebrenica zu suchen?

Žbanić: Das Thema hat mich verfolgt. Als Bürgerin konnte ich mich zwar nach und nach informieren, als Künstlerin dachte ich jedoch, es muss auch noch anders verbreitet werden. Zu wenige wissen darüber Bescheid, was wirklich passiert ist. Das hat mich motiviert, mich immer tiefer in die Materie hineinzugraben. Ich erinnere mich, dass es 1995 ein Riesenschock war, als ich erfuhr, dass Srebrenica von der serbischen Armee erobert wurde. Wir sind schon davor von der Uno betrogen worden, doch so weit ging es noch nie. Man hat die Serben gewähren lassen, nicht einen einzigen Schuss abgefeuert. Und als wir später herausfanden, wie viele Menschen vermisst wurden, wurde es richtig schwer. Die Traurigkeit verließ einen nicht mehr.

STANDARD: Sie wählen eine weib liche Perspektive, was den Film von gängigen Kriegsfilmen unterscheidet. Ging es darum, mehr von der Logik des Überlebens zu erzählen, selbst wenn das letztlich misslingen muss?

Žbanić: Die meisten Kriegsfilme zeigen den Krieg so, wie Männern ihn verstehen. Selbst wenn Frauen wie Kathryn Bigelow Kriegsfilme machten, wird das oft sehr männlich. Ich habe die Belagerung von Sarajevo erlebt und kann nichts Attraktives am Krieg finden. Für mich verkörpert er die Banalität des Bösen. Er ist eine männliche Sache, die mit einer enormen Bürokratie einhergeht – Helden und Patrioten, wie sie Filme oft zeigen, finde ich darin nicht. Meine Kamerafrau Christine A. Maier und ich haben lange diskutiert, wie wir Aidas Perspektive vermitteln wollen. Wir wollten aus ihrer Sicht das Innere des Krieges betrachten: wie die UN-Autoritäten selbst Angst hatten, wie sie betrogen und gelogen haben, auch sich selbst gegenüber. Das war unser Schlüssel, um den Krieg zu verstehen.

STANDARD: Dazu gehören viele Widersprüche im System. Aida ist eine Heldin, die mit den Regeln bricht, um andere zu retten. Die niederländischen UN-Soldaten tun genau das nicht.

Žbanić: Aida kämpft zuerst für alle, am Ende dann nur noch um einen einzigen Sohn. Es gibt keine Regeln, die sie von diesem letzten menschlichen Ziel abhalten können. Die Soldaten dagegen befolgen nur aus gewählte Regeln. An die Regel, die die Mission vorgibt, also im Notfall auch zu schießen, halten sie sich etwa nicht. Damit wird die militärische Struktur auf den Kopf gestellt.

STANDARD: Ist es eine Krise der Befehlsstruktur? Man gewinnt den Eindruck, die Soldaten sind ratlos.

Žbanić: Das stimmt, ich zeige auch, dass die Niederländer keine Unterstützung von ganz oben bekamen. Andererseits, hätte der leitende Offizier Thomas Karremans mehr Empathie gezeigt und die wahre Idee der UN-Mission ernst genommen, hätte er auch Bosnier retten können. Es gibt kein politisches System und keine Bürokratie, die einen daran hindern, gegenüber Menschen solidarisch zu sein.

STANDARD: Es hätte also mehr Mut zum Alleingang bedurft?

Žbanić: Ja, aber ich finde das nicht heroisch, es geht um Empathie. Die Niederländer hatten große Vorur teile, sie haben Muslime nicht der Rettung wert befunden – das war das wahre Problem. Ein kanadischer Offizier hat in einer sehr ähnlichen Situation seine Basis allen Flüchtenden geöffnet und der serbischen Armee untersagt, sie zu betreten.

STANDARD: Hasan Nuhanović, auf dessen Geschichte der Film aufbaut, fand, Sie seien gegenüber den Niederländern nicht kritisch genug gewesen.

Žbanić: Ich möchte niemanden die Situation von Karremans wünschen. Es muss furchtbar sein. Wir wollten, dass alle Figuren im Film Menschen bleiben, selbst Ratko Mladić – ich habe lange überlegt, wie ich ihn zeigen soll. Jeder in Serbien und Bosnien weiß, wie er aussieht. Zuerst dachte ich, ich zeige ihn nur von hinten. Aber er sollte wie ein Cousin bleiben, jeder hat in seiner Familie jemanden wie Mladić.

STANDARD: Wirklich jeder?

Žbanić: Oder vielleicht in seinem Unternehmen? Er ist kein Monster. Was ihn zum Soziopathen machte, ist die Macht des Krieges. Er konnte darüber entscheiden, wer lebt und wer stirbt.

STANDARD: Jasna Ðuričić ist selbst Serbin. War sie gleich bereit, die Rolle der Aida zu spielen?

Žbanić: Obwohl sie wusste, dass es für sie schwierig werden könnte, hat sie keine Sekunde mit der Zusage gezögert. Das war großartig. Als ich ihr sagte, dass sie so mutig sei, meinte sie nur, sie sei professionelle – sie suche wahrhaftige Rollen. Wir haben beide gesagt, wir drehen nicht einfach nur einen Film, sondern versuchen, die Herzen jener Leute zu treffen, die diesen Dingen applaudiert haben.

STANDARD: Sie haben in einem Gespräch einmal gesagt, Sie befürchten, dass Srebrenica in der Gegenwart genauso wieder passieren würde. Warum denken Sie das?

Žbanić: Ich glaube sogar, es könnte noch schlimmer ausfallen. Europa ist rechtsextremer als vor sechsundzwanzig Jahren. Und es ist definitiv islamophober. Ich sehe keinen Politiker, der sich dafür einsetzen würde, Bosnier zu retten. Der Genozid von Srebrenica lieferte eine Quelle der Inspiration für die Rechte. Breivik hat sich in Norwegen auf Karadžić bezogen.

STANDARD: Der Film ragt als Warnung in die Gegenwart hinein?

Žbanić: Für mich handelt er ganz stark von der heutigen Welt, speziell unter Politikern wie Trump. Schon 1995 und davor gab es Menschen, die ihre Macht dazu verwendet haben, die Menschen zu spalten. Sie haben gelogen und eine Stimmung erzeugt, die in einem Krieg kulminierte. Srebrenica erzählt davon, was in Europa wieder passieren kann, wenn wir unsere demokratischen Institutionen nicht pflegen. (Dominik Kamalzadeh, 26.6.2021)