Berlin – Die Geschichte des Polizeirufs begann nicht mit Mord, auch nicht mit Totschlag, aber mit einer der sieben Todsünden: dem Neid. Dieser hatte Anfang der Siebzigerjahre den Genossen Erich Honecker befallen.

"Gewisse Langeweile"

Während das DDR-Fernsehen, wie der Erste Sekretär des SED-Zentralkomitees selbst kritisierte, eine "gewisse Langeweile" verbreitete, hatten sie beim Klassenfeind, also in Westdeutschland, seit dem November 1970 einen echten Straßenfeger zu bieten. Dort war die Tatort-Reihe angelaufen. So etwas wollte Honecker auch für seinen Arbeiter-und-Bauern-Staat.

Von Anfang an ermittelte beim "Polizeiruf" eine Frau: Sigrid Göhler spielte bis 1983 Leutnant Vera Arndt.
Foto: MDR/DRA

Am 27. Juni 1971 war es dann so weit. Der erste Polizeiruf wurde ausgestrahlt, er hieß Der Fall Lisa Murnau. Mord gab es keinen, Totschlag auch nicht. Stattdessen wurde eine Frau lebensgefährlich verletzt und aus einer Postfiliale die Summe von 70.000 Mark entwendet. Die Zuseherinnen und Zuseher waren zufrieden, Honecker war es auch, zumal in den ersten Jahren des Polizeirufs eher minder schwere Delikte wie Diebstähle aufgeklärt wurden.

"Die Macher des Polizeirufs standen vor einem Dilemma. Eigentlich sollte es im sozialistischen Musterstaat keine Verbrechen geben. Aber einen Krimi kann man nun einmal nicht ohne Kriminalität zeigen", sagt Daniel Kosthorst. Er ist Kurator der Ausstellung Mord zur besten Sendezeit, die derzeit im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu sehen ist.

Es geht um den Tatort und den Polizeiruf, zu besichtigen ist etwa der weiße Kittel von Professor Karl Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) aus dem Münsteraner Tatort. Kosthorst hat aber auch einige Schriftstücke zusammengetragen, die zeigen, unter welcher Beobachtung der Polizeiruf in der DDR stand.

Die Drehbücher mussten dem Ministerium des Inneren, Hauptabteilung Polizei, vorgelegt werden. Und dort prüfte man nicht nur, ob die Abläufe der Polizeiarbeit korrekt dargestellt wurden.

Sozialismus im Drehbuch

"Es sollte mehr DDR-Wirklichkeit einfließen z. B. durch erwähnen (sic!) einiger sozial-politischer Maßnahmen für Mutter und Kind", heißt es etwa in einer sogenannten "Meinungsäußerung" zu einem Fall.

Ein andermal gab es folgende Anweisung: "Die Kriminalisten handeln grundsätzlich im Sinne der Verstärkung der Staatsautorität. Zu verhindern sind die Bilder die den Kriminalisten als Radfahrer darstellten." Auch die Begrüßung "Hey, Boss!" war unangebracht. Es sollte "Genosse Major" heißen.

Im Münchner "Polizeiruf" ist derzeit die Österreicherin Verena Altenberger als Elisabeth Eyckhoff zu sehen.
Foto: BR/Geißendörfer Pictures/Hendrik Heiden

Doch Drehbuchautoren wie Regisseure fanden ihre "Ersatzpublizistik", wie es Kosthorst nennt. Sie zeigten, wie sich Verbrechen entwickelt, und damit auch Missstände im Sozialismus. So thematisierte Rolf Römer 1978 in Schuldig Wohnungsnot und Alkoholismus in der DDR. Er bekam nach der Ausstrahlung keine großen Aufträge mehr.

Eine Folge über einen selbst minderjährigen Kindermörder wurde von den DDR-Machthabern kurz vor der Ausstrahlung 1975 verboten, das Material, das eigentlich hätte vernichtet werden sollen, erst nach der Wende wiedergefunden.

Eine Frau von Anfang an

Eines hatte der Polizeiruf dem Tatort voraus. Von Anfang an ermittelte eine Frau: Leutnant Vera Arndt (Sigrid Göhler). Im Tatort tauchte die erste Ermittlerin erst 1978 auf, Nicole Heesters spielte Kommissarin Marianne Buchmüller.

Während im West-Tatort auch einmal Polizisten die Bösen waren, war dies im Ost-Polizeiruf undenkbar. Ein Privatleben hatten die untadeligen Ermittler auch nicht. Das änderte sich erst, als im Ruhrpott Horst Schimanski (Götz George) mit seiner Schmuddeljacke, die auch in Leipzig zu sehen ist, begeisterte.

So wild konnte ein DDR-Ermittler natürlich niemals dreinschlagen. Aber Leutnant Thomas Grawe (Andreas Schmidt-Schaller) durfte impulsiv sein, bekam eine Familie ins Drehbuch geschrieben und galt bald als "Schimanski des Ostens".

Sinkendes Interesse

Dennoch sank in den letzten Jahren der DDR das Interesse am Polizeiruf. Der Frust der Bürgerinnen und Bürger schlug sich auch hier nieder, Westfernsehen war für viele interessanter. Aber die Marke war so bekannt, dass sie es nach der Wende, nebst dem Sandmännchen, ins gesamtdeutsche TV schaffte und ein Team in München bekam.

Heute gilt der Polizeiruf vielen als der bessere Tatort. Es gibt nicht so viel Action, dafür mehr Raum für die Geschichten der weniger Privilegierten. Besonders hoch in der Gunst des Publikums steht das Rostocker Team um Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Sascha Buckow (Charly Hübner).

Letzterer ist der aktuell dienstälteste Ermittler im Polizeiruf (seit 2010), er hört allerdings mit Jahresende auf. Nachzuholen hätte der Polizeiruf gegenüber dem Tatort quantitativ übrigens noch einiges: Vom Tatort gibt es 1170 Episoden, vom Polizeiruf nur 392.

Alte Fälle aus der DDR und auch neuere sowie Dokumentationen sind zum Jubiläum des "Polizeirufs" in den Mediatheken der ARD und des MDR (Mitteldeutscher Rundfunk) abrufbar. (Birgit Baumann, 27.6.2021)