Was sie hier eigentlich wollten, fragt der äthiopische Soldat, der die Straßensperre am Stadtrand von Mekelle, der Hauptstadt der Tigray-Provinz, betreibt. Die Frage ist aus seiner Sicht durchaus berechtigt: Für seine Auftraggeber, die Regierung in Addis Abeba, gibt es aus dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Landesteil eigentlich nichts zu berichten.

Die "Strafverfolgungsaktion", zu der Premierminister Abiy Ahmed seine Truppen im vergangenen November in die Provinz entsandte, hatte der Regierungschef bereits vier Wochen später für erfolgreich beendet erklärt: Seitdem seien die Soldaten nur noch mit "Aufräumarbeiten" beschäftigt. Schon bald würden auch die eritreischen Truppen nach Hause zurückkehren, die zur Unterstützung der Aktion ins Land gelassen wurden: Deren Präsenz in Tigray hatte Abiy zunächst monatelang bestritten.

Auch die Alarmrufe der Vereinten Nationen, wonach sich in der Provinz eine Hungersnot anbahne, tut der 44-jährige Premierminister als Fake-News ab: "In Tigray hungert keiner", sagte Abiy kürzlich der BBC.

Die Route der Reportagereise in der Übersicht.
Grafik: DER STANDARD

Straßensperren und Panzer

Sind die Berichte aus der äthiopischen Bürgerkriegsprovinz tatsächlich maßlos übertrieben – oder leidet der Friedensnobelpreisträger unter akuter Wirklichkeitsverkennung? Zum Realitätscheck wählen wir den Weg von Mekelle in Richtung Westen ins Hinterland nach Abiy Addi. Die makellos geteerte Straße gilt als sicher – wie fast alle Verbindungen zwischen den Städten der Provinz, die entweder von äthiopischen oder von eritreischen Soldaten kontrolliert werden.

Der Soldat der ersten von über zwanzig Straßensperren, die wir auf unserer zweitägigen Rundreise durch Tigray passieren werden, hat gegen unsere Weiterfahrt auch nichts Entscheidendes einzuwenden: Warum sie nichts Besseres zu tun hätten, als ausländische Journalisten durch die Gegend zu kutschieren, will er von unseren beiden einheimischen Begleitern, dem Fahrer und Übersetzer, lediglich wissen.

Ausrangierte Panzer werden im Kriegsgebiet auch zu Klettergerüsten für Kinder.
Foto: Johannes Dieterich

Wenige Kilometer später taucht am Wegrand der erste ausgebrannte Panzer auf, ihm werden auf unserem Weg durch die Provinz noch Dutzende weitere folgen. Fast ausnahmslos äthiopische Tanks, die sich die Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) gleich zu Beginn des Konflikts aus den Beständen des "Northern Command" unter den Nagel riss. Womit die TPLF-Soldaten nicht gerechnet hatten: dass sich Addis Abeba die Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emirate und deren Kampfdrohnen sicherte. Sie verwandelten den Beutepanzer-Park innerhalb weniger Tage in Altmetall.

Guerillakampf in den Bergen

Die aufständische Provinzführung sah sich zu radikalem Umdenken gezwungen: Sie gab die herkömmliche Kriegsführung auf und zogen sich zum Guerillakampf in die spektakuläre Bergwelt zurück. Soeben haben wir einen der zahllosen atemberaubenden Pässe Tigrays passiert, als neben der Straße ein Grüppchen junger Männer mit umgehängten Kalaschnikows auftaucht.

Einige der Kämpfer sind damit beschäftigt, kleine Wälle aus Steinen aufzuschichten, um sich dahinter verstecken zu können: Hier wird offensichtlich ein Hinterhalt vorbereitet. "TDF", sagt unser Fahrer, weniger erschreckt als ehrfurchtsvoll.

Als Kommandeur der Gruppe gibt sich ein untersetzter Mittvierziger mit ergrauten Haaren zu erkennen. Der wohlbeleibte Herr stellt sich als einstiger Geschäftsmann in Addis Abeba vor, dem die Regierung seine Konten gesperrt habe, weil er aus Tigray stammt. Daraufhin kehrte er in die Heimat zurück und schloss sich den Rebellen an.

Die Berglandschaft rund um Abiy Addi.
Foto: Johannes Dieterich

Freiwillige für die Rebellentruppen

Sollte Abiy Ahmed damit gerechnet haben, dass Tigrays Bevölkerung die angeblich nur gegen die Provinzführung gerichtete Strafverfolgungsaktion geduldig über sich ergehen ließe, sah er sich bald eines anderen belehrt: Mit jedem weiteren blutigen Besatzungstag strömten der inzwischen in "Tigrays Verteidigungsarmee" (TDF) umbenannten Rebellentruppe hunderte neuer Rekruten zu: Bauernsöhne, Taxifahrer, selbst Hochschullehrer. Mit ihrer "Terrorherrschaft" hätten ihre Feinde dafür gesorgt, "dass wir keinerlei Nachwuchsprobleme haben", sagt der Kommandant.

Ihr Guerillakampf sei dermaßen erfolgreich, dass sie ihre Strategie jetzt erneut ändern könnten, fügt der Herr in blauen Jeans und kariertem Hemd hinzu: "Während wir uns bisher nach jedem Angriff schnell wieder zurückzogen, versuchen wir inzwischen, Gebiete zu halten." Schon in wenigen Tagen werde ihnen Abiy Addi in die Hände fallen, sagt der Geschäftsmann siegesbewusst: "Aber jetzt müsst ihr gehen, denn die Äthiopier werden bald kommen."

Schüsse und Pulverdampf

Tatsächlich kommt uns auf der Weiterfahrt nach Abiy Addi schon bald ein aus 19 Lastwagen bestehender Konvoi der äthiopischen Armee entgegen. Auf der Ladefläche der Laster stehen jeweils rund 30 Soldaten: Sie rumpeln jetzt ihrem Verhängnis entgegen. Als wir später umkehren, um zu sehen, was passiert ist, kommen wir nicht weit: Die letzten beiden Laster des Konvois blockieren die Straße – Schüsse und Pulverdampf machen deutlich, dass der Kampf noch anhält. Einzelheiten werden wir erst Tage später erfahren.

Abiy Addi hat seit Tagen keinen Mobilfunkempfang, die Armee schaltet immer wieder das Netz ab. Der einheimische Koordinator einer internationalen Hilfsorganisation erzählt, dass er während des Besuchs einer vom Hunger heimgesuchten Region mit seinem Team von äthiopischen Soldaten festgenommen, verprügelt und mit dem Tod bedroht worden sei. "Die Militärs wollen bestimmen, wer Hilfe kriegt und wer nicht", sagt der ehemalige Universitätsdozent: "Wir haben die Nahrungsmittel, werden aber an ihrer Verteilung gehindert." Mehr als ein Drittel der Kinder in der Region um Abiy Addi sei unterernährt: Die schlimmsten Fälle werden bereits in der Klinik behandelt. Weil ohne Mobilfunk keine Ambulanzen benachrichtigt werden können, schaffen es allerdings nur wenige ins Hospital.

Anhaltende Kämpfe

Auf demselben Weg nach Mekelle zurückzukehren geht nicht: Dort wird noch immer gekämpft. Auch die Straße über Howzen ist inzwischen gesperrt: TDF und äthiopische Armee sind hier ebenfalls in Kämpfe verwickelt. Offen bleibt lediglich die Route über Adua und Adigrat: ein 300 Kilometer langer Umweg durch das Herz der terrorisierten Provinz. Diese Route hatte uns Maria Hernandez, Nothilfekoordinatorin der spanischen Ärzte ohne Grenzen, vorgeschlagen: Sie wird wenige Tage später gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter und Fahrer ermordet. Wer für die absurde Tat verantwortlich ist, bleibt vorerst ungeklärt.

Auf dem Weg nach Adigrat liegt zerstörtes Kriegsgerät.
Foto: Johannes Dieterich

Die Straße nach Adua wird von eritreischen Soldaten kontrolliert: Sie versuchen ihre umstrittene Anwesenheit schon längst nicht mehr zu vertuschen. Ihr Aussehen erinnert an den Volkssturm: Junge Kerle oder alte Kämpen – die mittlere Generation sei fast gänzlich nach Europa geflohen, heißt es. Dass es Eritreer sind, die diese Gegend kontrollieren, wäre auch ohne die helleren Uniformen der ausländischen Besatzer auszumachen: Hier ist fast die gesamte Bevölkerung geflohen, die Türen der Häuser sind aufgebrochen, innen gähnt die Leere.

Die Eritreer gehen gegen die Zivilbevölkerung besonders gnadenlos vor, wie wir später in Mekelles Hayder-Hospital erfahren: Sie machen sich mit ihren Messern selbst über vierjährige Kinder her, vergewaltigen junge Mädchen oder betagte Frauen, nur um ein Maximum an Terror über den historischen Erzfeind zu bringen. Vor mehr als 20 Jahren haben Eritreer und Tigrayer, die derselben Volksgruppe angehören und dieselbe Sprache sprechen, schon einmal einen grausamen Bruderkrieg geführt – damals ging es um den Grenzverlauf in einem Halbwüstengebiet.

Beutegut wird abtransportiert

Als wir anderntags von Adigrat aus einen Abstecher in Richtung eritreische Grenze machen, liegt die Straße wie ausgestorben da. Nur am Ortseingang von Fatsi steht ein einsamer greiser Mann, der sich als Alemu Gebremariam vorstellt: Er betrieb eine kleine Herberge, eine Bar und ein Geschäftchen, das von den eritreischen Invasoren in eine Trümmerkammer verwandelt wurde. Die Besatzer hätten sich fest eingenistet, erzählt der 59-Jährige: Sie schlugen ihr Camp in der Schule auf und installierten einen eigenen Verwalter. Dass die "Armee der Bestien" die Provinz bald wieder verlässt, wie Regierungschef Abiy bereits mehrfach versicherte, hält Alemu für ausgeschlossen: "Ohne Eritreer würden wir die äthiopische Armee im Handumdrehen verjagen."

Von Eritreern ausgeraubter Shopbesitzer in Fatsi.
Foto: Johannes Dieterich

Auf der Straße von Abiy Addi nach Adua überholen wir einen Lastwagen, der mit Stühlen, Tischen, Planken und Plastikkanistern beladen ist: Beutegut der eritreischen Soldaten, das sie in ihre Heimat abtransportieren. Die Besatzer hätten ihnen sogar befohlen, die Bäume zu fällen, erzählt ein Teenager – damit sie deren Stämme über die Grenze schaffen können.

Die heilige Stadt

Am Abend erreichen wir Axum, die Heilige Stadt der Tigrayer, in der angeblich die Bundeslade der Israeliten aufbewahrt ist. Außer einem auserwählten Priester darf den in Stein gehauenen Gesetzestafeln keiner nahekommen. Trotzdem hätten die Invasoren versucht, auch ihrer habhaft zu werden, erzählt man sich in Axum: Daraufhin seien Hunderte von Männern zur heiligen Stätte geeilt – und dort von eritreischen Soldaten getötet worden.

Über das "Massaker von Axum" gibt es allerdings viele sehr unterschiedliche Berichte: Fest steht lediglich, dass das Gelände nun auch ein Massengrab mit einer nicht genannten Zahl von Leichnamen enthält. Wir verbringen die Nacht in einem leerstehenden Viersternehotel, das mit verhängten Fenstern auf bessere Zeiten wartet. Und anderntags feiern tausende den Namenstag des Erzengels Michael – als ob sie an dessen Ausübung seiner eigentlichen Schutzaufgabe nichts auszusetzen hätten.

Ein Gottesdienst in Axum.
Foto: Johannes Dieterich

Die Rückfahrt nach Mekelle über Adigrat verläuft ereignislos. Wir passieren mehrere Textil-, Glas- oder Natursteinfabriken, die alle restlos zerstört sind, und begegnen zahllosen Militärkonvois mit tausenden äthiopischen Soldaten, die Abiy Ahmeds Versicherung vom bevorstehenden Ende der Mission Lügen strafen.

In manchen Gegenden bereiten Bauern ihre Felder mit Ochsenpflügen auf den ersten Regen vor, in anderen Regionen liegen die Äcker brach. Insgesamt sollen bereits mehr als zwei Millionen Tigrayer aus ihrer Heimat vertrieben worden sein, heißt es bei den Vereinten Nationen: Sie leben meist zusammengepfercht in Schulen, die notdürftig mit Lebensmitteln versorgt werden. Seit acht Monaten findet in der Provinz kein Unterricht mehr statt.

Kontakt mit Rebellen

Zurück in Mekelle nehmen wir Kontakt mit dem Befehlsstab der Rebellen auf, um Einzelheiten über das Schicksal des Geschäftsmanns zu erfahren. Seine Truppe habe 80 äthiopische Laster erbeutet und 2.000 Soldaten getötet, teilt Getachew Rada, Mitglied der neunköpfigen TDF-Führung und ehemaliger äthiopischer Informationsminister, mit. Gewiss eine maßlose Übertreibung: doch am Erfolg seines Hinterhalts gibt es keine Zweifel. Dem Kommandanten gehe es gut, versichert Getachew: Er werde in den nächsten Tagen Abiy Addi einnehmen.

Anderntags erfolgt die Rache der Regierungsarmee. Kampfjets bombardieren das nahe der Straße zwischen Mekelle und Abiy Addi gelegene Dorf Togoga: Dort haben sich hunderte zum Markttag eingefunden. Bei dem Angriff kommen mehr als fünfzig Zivilisten ums Leben, darunter viele Frauen und Kinder. Die äthiopische Armee leugnet, den Markt in Togoga angegriffen zu haben: Ihre Attacke habe vielmehr "Terroristen" gegolten. Diese seien "Meister im Vortäuschen von Opfern", sagt ein Sprecher des Militärs: Die Meisterschaft im Lügen nehmen andere in Anspruch. (Johannes Dieterich aus Tigray, 28.6.2021)