Wenn im Herbst Wiens Pflichtschulen wieder öffnen, beginnt beim Lehrpersonal das große Umbauen. "Brennpunktschulen" sollen mehr Geld bekommen, verspricht die Stadtregierung.

Foto: Regine Hendrich

Wien – Sechs A3-Zettel im Querformat – so sieht sie aus, die Liste, die derzeit bei vielen Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern und Kindern in Wien für Aufregung sorgt. Von oben nach unten sind die Schulstandorte aufgelistet. Horizontal weisen zahlreiche Spalten die einzelnen Töpfe aus, deren Summe dann die Gesamtzahl der Lehrpersonalstunden für das kommende Schuljahr ergibt. Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) kann der Liste viel Positives abgewinnen. Endlich sei klar nachvollziehbar, wer was wofür bekommt. Transparenz! Dafür sei seine Partei ja angetreten.

Schulleiterin B., DER STANDARD hat bereits berichtet, kann sich über die neue Art der Ressourcenverteilung nur wundern. Rund 20 Stunden hat sie dazubekommen, weil die Mittelschule, die sie leitet, das aufgrund der sozialen Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler auch gut brauchen kann. Bloß hilft ihr das im kommenden Schuljahr wenig. Das sogenannte "Basiskontingent", jener Topf, aus dem der Großteil des Stundenbudgets für den Einsatz der Pädagoginnen und Pädagogen stammt, fällt diesmal deutlich kleiner aus: minus 50 Stunden.

Direktorenkritik an "Bluff"

Im Jahr darauf, wenn der "Übergangszuschlag" vom alten ins neue System wegfällt, werden noch einmal Stunden gekappt. Den Direktorinnen und Direktoren der Pflichtschulen in Wien-Favoriten geht es ähnlich. In einem offenen Brief werfen sie der Stadtregierung einen "Bluff mit den Brennpunktschulen" vor. Zwischen ein bis sechs Lehrkräfte verlieren sie nach aktuellem Verteilungsschlüssel im Herbst.

Kann das so gewollt sein? Von der Partei, die in Wien den Kindern die Flügel heben wollte? Wird hier mehr Schaden angerichtet, als die Lage verbessert wird? Oder steigt unterm Strich dann doch die Mehrheit der Schulen besser aus?

Auf dem Papier herrscht tatsächlich erstmals so etwas wie Klarheit. Soundso viele Stunden erhält Schule X aus dem Basiskontingent, soundso viele für sonderpädagogischen Förderbedarf – und so weiter. Das ergibt Sinn, erzählen doch viele, die das System seit Jahren kennen, wie es zuvor lange eingeübte Praxis war: Da seien die Ressourcen nämlich vom einstigen Schulinspektor (heute: Schulqualitätsmanager) in einer Art "Gutsherrenmentalität" verteilt worden. Besonders geschickte Schulleitungen bekamen mehr Mittel, für die anderen blieb folglich weniger vom Kuchen. Meist sind gerade Schulen mit Kindern, die besonders viel Förderung bräuchten, dabei übrig geblieben.

Sozialindex als Hoffnungsträger

Hier eine solide Datengrundlage zu schaffen und fairer zu verteilen ist seit langem ein Wunsch vieler Experten. Alle wollen ihn, den Sozialindex. Jetzt ist er da – und es passt wieder nicht.

Was nämlich gegen das rot-pinke Verteilungsmodell spricht: Ganz so einfach ist das nicht mit der Einberechnung verschiedener sozialer Faktoren, auch weil über die Verteilung der Lehrpersonen öffentlich keine Informationen verfügbar sind. Die Berechnungen sind komplex, je nach Modell variiert die Summe der Kosten am Ende um mehrere Millionen Euro. Lorenz Lassnigg, Bildungsforscher am Institut für Höhere Studien, beziffert den jährlichen Ressourcenbedarf bei starker Konzentration auf besonders benachteiligte Schulen je nach gewählter Formel mit "60 bis 180 Millionen".

Doch 2200 Stunden mehr

Stichwort Kosten: Das macht die Situation in Wien nicht gerade leichter. Mehr Mittel gibt es für die Realisierung des Sozialindex nämlich nicht. Das, was vom Land zusätzlich investiert wird, fließt vor allem in die Gehälter der Freizeitpädagogen (ihr Job ist ohnehin Landessache, und die Gratis-Ganztagsschule boomt), aber auch in Schulneubauten oder Schuladministration. Am Freitag wurde dann noch eilig angekündigt, 2200 Lehrerstunden pro Woche draufzulegen. Der laute Aufschrei an vielen Schulstandorten hat offenbar Wirkung gezeigt. Die dafür nötigen Mittel sind aber nichts anderes als ein Ausschöpfen des in Wien üblichen "Überhangskontingents". Mehr Geld für Bildung gibt es nur bedingt. Von den 40 Millionen Euro, die von den Neos noch im Wahlkampf gefordert wurden, sind nur zehn übrig geblieben. Wiederkehr richtet sein Begehr jetzt also Richtung Bund. Dazu später mehr.

Zusätzlich wurde an einem Rad gedreht, das in vielen Fällen das Vorhaben einer gerechteren Mittelverteilung konterkariert: Sitzen mehr Schülerinnen und Schüler in der Klasse, gibt es auch mehr Ressourcen. Hinzu kommt die sogenannte Klassenquote. Wer also mehr Kinder in einer Klasse zusammenfasst, steigt besser aus. Wenn es dadurch dann weniger Klassen in der Schule gibt, wird wieder abgezogen. Bildungsstadtrat Wiederkehr bestreitet diese Rechnung.

"Diskriminierung städtischer Bezirke"

Bildungsforscher Lassnigg verweist jedoch auf einen Zusammenhang, der sich quer durch alle Analysen zeigt: Bezirke mit besonders benachteiligten Schulen haben die höchsten Klassenschülerinnenzahlen. Insbesondere in den bevölkerungsreichen Wiener Bezirken seien sie bereits höher als in anderen größeren Gemeinden. Er spricht von einer "Diskriminierung städtischer Bezirke bei der Ressourcenverteilung".

Also einfach alles dorthin schaufeln? Mehr oder weniger: ja. Lassnigg sagt, der Problem sei gut eingrenzbar, handle es sich doch um eine vergleichsweise geringe Anzahl an Schulen, die nach dem von der Arbeiterkammer errechneten Sozialindex benachteiligt sind. Hinzu kommt, dass sich diese auf zehn bis 20 Bezirke in Österreich konzentrieren – nicht alle davon in Wien. Am besten sei das Ganze durch einen österreichweiten Sozialindex zu lösen, glaubt Lassnigg. Bei dem winken derzeit aber sogar die Grünen ab.

Gefährdete Schulprofile

In der Hauptstadt gibt es noch einen weiteren Punkt, der sich ungünstig auf viele Schulstandorte auswirkt. Eine Spalte in Wiederkehrs Liste weist nämlich jene Mittel aus, die es für Projekte und Schulschwerpunkte geben sollte. Da steht jetzt bei sehr vielen Schulen die Zahl Null. Der Bildungsstadtrat erklärt, die Schulen dürften jetzt ganz autonom Schwerpunkte setzen. Dass sich da nicht mehr alle Projekte ausgingen, sei traurig, aber ein Faktum. Die Schulleiter hingegen fühlen sich gefrotzelt: Die Zeit, die sie mit dem Ausloten jener Projekte verbracht haben, die wohl am erfolgreichsten bei der Zuteilung des Personalkontingents sein würden, hätten sie sich dann ja sparen können. Viele lang erarbeitete Schulprofile könnten im Herbst so nicht mehr fortgeführt werden, heißt es – darunter auch Inklusions- und Sprachschwerpunkte.

Am Ende hat Wiederkehr die eigene Reform dann doch abgebremst. "Gleich viele Gewinner wie Verlierer" – auf der Liste ersichtlich durch annähernd gleich viele rote wie grüne Balken – reicht im Praxistest anscheinend doch nicht. Wer als "Härtefall" gilt und wie viel an zusätzlichen Stunden es für diese Schulen nun geben soll? Das ist jetzt leider nicht mehr ganz so transparent. (Karin Riss, 28.06.2021)