Geräte her, und los geht's? So einfach ist das mit sinnvollem digitalem Unterricht nicht, sagt Bildungsexperte Klaus Zierer.

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Früher stand er selbst als Lehrer in der Klasse. Dann hat er über und mit John Hattie publiziert. Sie erinnern sich? Das ist jener Neuseeländer, der 2009 mit seiner Metastudie weltweit Beachtung fand. Die zentrale Erkenntnis damals: Ob Kinder und Jugendliche in der Schule erfolgreich sind, hängt stark davon ab, wer sie unterrichtet. Oder, anders formuliert: Die Lehrerin oder der Lehrer ist entscheidend.

Klaus Zierer hat 2018 gemeinsam mit dem Autor der Hattie-Studie weitergeforscht. Dem STANDARD hat er in einem Telefoninterview erzählt, welche Erkenntnisse er daraus für die Digitalisierung des Unterrichts ableitet.

STANDARD: In Österreich heißt es jetzt: Corona habe Dampf gemacht, damit die Digitalisierung endlich an den Schulen ankommt. Ist das alternativlos?

Zierer: Während der Pandemie war es ein Stück weit alternativlos. Da ging es darum, dass wir mit den Kindern und Jugendlichen Kontakt halten, auch wenn sie nicht zur Schule kommen. Das größte Problem an dieser digitalen Aufrüstung der Kinderzimmer ist aus meiner Sicht, dass wir die jungen Menschen nicht vernünftig darauf vorbereitet haben. Der Umgang mit der Technik ist ja beileibe nichts Selbstverständliches. Zwar werden die jungen Menschen damit groß, aber den sinnvollen Umgang muss man erlernen. Ganz konkret: Die Klasse meiner Tochter hat iPads bekommen. Aus meiner Sicht haben die Kinder gelernt, sinnlose Chats zu schreiben, aber nicht, sinnvoll mit diesen Geräten zu arbeiten.

"Es gibt Fächer, wo es ganz wichtig wäre, nicht digital zu arbeiten" – etwa wenn die Schriftsprache erlernt wird, sagt Schulpädagoge Klaus Zierer.
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STANDARD: Wann ist der Einsatz digitaler Medien also sinnvoll?

Zierer: Das Grundproblem ist aktuell, dass wir eine Ausnahmesituation als neues Normal sehen, jetzt hergehen und sagen 'wir digitalisieren das ganze Bildungssystem durch' – ohne auch nur den Funken einer empirischen Evidenz dafür zu haben, dass das sinnvoll ist. Es gibt Jahrgangsstufen, wo wir bewusst digitale Medien rauslassen sollten. Es gibt Fächer, wo es ganz wichtig wäre, nicht digital zu arbeiten. Ein Beispiel: der Schriftsprachenerwerb in der Grundschule. Das klappt analog definitiv besser.

STANDARD: Was passiert mit all den Laptops und Tablets im Unterricht also im Bestfall? Und was sollte tunlichst nicht passieren?

Zierer: Zuerst zu Letzterem: Studien zeigen, dass sich Lernende den Unterrichtsinhalt wesentlich besser merken, wenn sie mit Papier und Bleistift mitschreiben, statt auf der Tastatur zu tippen. Warum? Weil Lernende mit Papier und Bleistift weniger mitschreiben und gleichzeitig Querverbindungen herstellen. Das heißt, dass das Lernen bereits beim Schreiben verarbeitet wird. Mit anderen Worten: Allein die Technik blind reinzuschmeißen ist ein Riesenproblem. Wir müssen uns der Fallstricke bewusst sein, um die Möglichkeiten nutzen zu können.

STANDARD: Und wenn ich die Inhalte am Tablet lese?

Zierer: Laut einer Metastudie lernt man von Papier deutlich besser. Die Erklärung: Weil man langsamer und konzentrierter liest, während man am Tablet alles schnell wieder wegwischt. Auch hier gibt es also Fallstricke, die man kennen muss.

STANDARD: Wo lassen sich die digitalen Hilfsmittel also sinnvoll einsetzen?

Zierer: Überall dort, wo sie helfen, die Grundprinzipien erfolgreichen Unterrichts umzusetzen. Dazu gehört die Fürsorge – also wenn ich damit die Lehrer-Schülerinnen-Beziehung noch besser mache als zuvor. Dazu gehört auch der Bereich der Motivation: wenn ich digitale Medien dazu einsetzen kann, damit die Motivation für das Lernen im Fach gesteigert wird. Wichtig ist dabei: fürs Fach, nicht für die Technik! Bestimmte Lern-Apps helfen außerdem zur individuellen Förderung. Die sind ja so programmiert, dass aufgrund des Fehlers, den der Lernende macht, die nächste Aufgabe immer genau im Bereich der Herausforderung ist. Also nicht zu leicht, nicht zu schwer – das kann man mit einer guten Programmierung hinbekommen. Jetzt wieder mit Ausrufezeichen: Das klappt nur im Bereich des Oberflächenverständnisses, also wenn es ums Vokabellernen geht, um Formelverständnisse, um reproduzierbares Wissen. Beim Tiefenverständnis ist der unmittelbare Austausch in der Gruppe entscheidend und wirksamer.

STANDARD: Was kann das Konzept des "flipped classroom"?

Zierer: Gemeint ist damit, dass ich als Lehrperson die Einführung in einen Themenbereich auslagere, durch ein Video, ein Audio, einen Text – um dann in der Präsenzphase stärker an den Fragen der Lernenden arbeiten zu können. Das ist der Grundgedanke – didaktisch, pädagogisch absolut sinnvoll. Interessant ist aber, dass die Effekte relativ gering sind. Warum? Der Redeanteil von Lehrpersonen ist laut Studien in dem Konzept in der Präsenzphase genau so groß, als würden diese Lehrpersonen keinen "flipped classroom" machen. Da wurde also eine gute Idee nicht gut umgesetzt. Richtig gemacht würde das bedeuten, dass ich in der Präsenzphase als Lehrperson viel weniger spreche, weil die Fragen der Lernenden und der Austausch untereinander zentral werden und ich eher nur der Impulsgeber bin.

STANDARD: All das bedeutet ja fast zwangsweise eine massive Überforderung der Lehrkräfte, oder? Neben all diesen pädagogisch-didaktischen Fragen muss ja auch noch die Technik unter Kontrolle gehalten werden – und das lernt man ja auch nicht nebenher.

Zierer: Das ist definitiv so. Und wer wartet denn die Technik? Häufig eine Lehrkraft, die dafür eine Stunde weniger Lehrverpflichtung hat – eine krasse Überforderung. Strukturveränderung alleine wirkt nicht. Wir brauchen die Menschen, die die Strukturen zum Leben erwecken. Wenn wir das Tempo hier nicht anpassen, dann wird das Ganze scheitern. Das kostet dann nicht nur Geld, es macht den Unterricht womöglich schlechter. In den vergangenen Jahren habe ich viel technische unterstützten Unterricht mit viel Powerpoint erlebt. Gleichzeitig war das der schlechteste Frontalunterricht, den ich je gesehen habe.

STANDARD: Wie wird das in der Praxis aussehen, wo es anzunehmenderweise eine relativ lange Übergangsphase geben wird, in der die Lehrkräfte noch nicht ausreichend ausgebildet sind, wo man ausprobieren und wahrscheinlich viele Fehler machen wird?

Zierer: Ich halte das für bildungspolitisch nicht verantwortbar, dass wir mit Generationen von Kindern und Jugendlichen hier flächendeckend Experimente führen. Die Lehrpersonen brauchen dringend entsprechende Fortbildungen. Blinde Digitalisierungseuphorie bringt uns womöglich genau in dieses Experimentieren, das aber dann ungeheuer viel Schaden anrichten kann. In Bayern habe ich auch einen Unterricht besucht, wo eine Lehrperson zur Wahl gestellt hat, die Lehrinhalte ins Heft zu schreiben oder am Handy mitzutippen. Die hat gedacht, sie ist total modern. Die armen Kinder!

STANDARD: Würde ich den Bildungsminister mit Ihren Bedenken konfrontieren, wäre die Antwort wohl, dass die Lehrkräfte optimal vorbereitet werden. Und Online-Weiterbildungskurse gibt es wirklich zuhauf. Reicht das?

Zierer: Was man hier bildungspolitisch macht, ist eine Augenauswischerei. Das ist nicht einmal kostengünstig, weil solche Onlinekurse relativ viel Geld verschlingen, bis sie stehen. Aber die Effekte sind null. Im Grunde können Sie sich das schenken. Wenn ein Bildungspolitiker glaubt, damit kommt er seiner Verantwortung nach, dann geht das völlig an der Realität und auch an der Forschung vorbei. Der wichtigste Motor für die Schul- und Unterrichtsentwicklung ist das Kollegium vor Ort. Wie bringe ich diese ins Gespräch? Wie tauschen sich diese untereinander über die Fehler aus, die sie im Unterricht tagtäglich machen? Hier ist der entscheidende Ansatzpunkt für Schulentwicklung.

STANDARD: Also besser ein regelmäßiger Jour-fixe, um einander Feedback zu geben?

Zierer: Zum Start könnte im Lehrerzimmer eine Tafel aufgehängt werden, auf der steht: "Der Fehler der Woche". Da können Lehrkräfte ihre Fehler teilen und fragen: Habt ihre eine Idee? Habt ihr auch schon einmal das Problem gehabt?

STANDARD: Perspektivenwechsel hin zu den Eltern: Deren Leben wird wohl auch nicht leichter. Jetzt hängen die Kinder nicht nur nachmittags, sondern auch vormittags in der Schule vor den Geräten.

Zierer: Mit der digitalen Aufrüstung der Kinderzimmer sind die Bildschirmzeiten massiv gestiegen. Gleichzeitig sind die realen Begegnungen zwischen Menschen zurückgegangen. Eine Begegnung auf Facebook ist keine, die der Mensch braucht, gerade in dem Alter. Da geht es um Identitätsfindung, um einander treffen, einander in die Augen schauen, miteinander diskutieren. Es gibt auch Studien, die belegen, dass aufgrund dieser Bildschirmzeiten auch die körperliche Verfassung gelitten hat. Das heißt, die Kinder sind weniger beweglich, sie haben zugenommen. Das ist natürlich die Schattenseite: Der Tag hat halt nur 24 Stunden. Je mehr Zeit ich vor Geräten sitze, desto weniger Zeit habe ich für anderes – für die Natur, für Freunde, für die Begegnung im Hier und Jetzt und auch für den Bildungswert der Langeweile. Die zwingt mich nämlich, einmal über mich nachzudenken: Was mache ich mit mir und mit der Zeit, die mir zur Verfügung steht? Aus Elternsicht wird hier ganz wichtig sein, dass wir auch das eigene Medienverhalten reflektieren. Man muss auch einmal Stille aushalten können. Nicht jede Sekunde das Handy zücken, wenn man etwas nicht weiß. All das wird wichtiger als jemals zuvor sein, weil das zum Menschsein und zur Bildung dazugehört. (Karin Riss, 3.7.2021)