Auf einmal streckte er mir zu Begrüßung die Hand entgegen. Da war der Lockdown noch keine Woche vorbei. Ich war schockiert. Nicht weil der Bekannte womöglich ob des unerwarteten Aufeinandertreffens mit einem Schlag die Ereignisse der letzten eineinhalb Jahre vergessen hat – oder weil er vielleicht ein Corona-Leugner ist. Nein, ich war über mich entsetzt. Weil mir auf einmal bewusst wurde, dass einiges, was mir in letzter Zeit lieb geworden ist, wieder stiften gehen wird. Das erste Mal war ich zehn Tage nach dem ersten Lockdown im März vor einem Jahr erschrocken, als meine Frau mich fragte: "Merkst du eigentlich was vom Lockdown?"

Bücher sind sozialen Einsiedlern gute Freunde. Man kann in fremde Welten und Persönlichkeiten eintauchen, ohne dass einem jemand zu nahe tritt.
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Unser Leben war im Grunde wie immer. Und es sollte nicht mehr lange dauern, bis ich erkannte, dass ich gar nicht der Sonderling bin, für den ich mich halte – und vermutlich alle, die mich kennen –, sondern das, was meine Chefin einen "sozialen Einsiedler" nennt. Also doch ein Sonderling? Na ja ...

Gesunde Distanz

Es sei schon mutig, davon zu erzählen, sagt mein Freund, der Psychologe Ferdinand Wolf, "obwohl die Wissenschaft die Frage, wie das mit dem Social Distancing, oder besser Physical Distancing, weitergehen wird, enorm beschäftigt." Soziale Einsiedler seien vermutlich besser durch die Pandemie gekommen, weil sie sich der neuen Normalität leichter anpassen konnten und dabei "durchaus Wohlbefinden" in der Situation verspüren konnten.

Ferdinand erinnert an die Tennisspielerin Naomi Osaka, die nach der Rückkehr in die Normalität und den French Open alles hinschmiss, um wieder ihre Ruhe zu haben. Oder an Elfriede Jelinek, die "kreativste Leistungen erbringt, vielleicht gerade weil sie die Öffentlichkeit scheut". Ich bin also in guter Gesellschaft.

"Soziale Einsiedler könnten besser durch die Pandemie gekommen sein, weil diese Lebensweise ihrer Normalität gefühlt näher ist." Ferdinand Wolf, Klinischer Psychologe

Meine Frau akzeptiert es, dass ich mich unter vielen Leuten nicht wohlfühle. Sie tickt ähnlich, schafft es aber, selbst bei größeren Feiern freundlich und lustig zu sein. Meine Eltern haben mich vor mir verstanden und rufen immer an, wenn daheim ein Fest auszubrechen droht, damit ich nicht unglücklich, weil unangemeldet daheim vorbeischau, und da sitzen sie dann alle.

Egal ob Familienfest, Feier bei Freunden oder zufällige Begegnungen beim Heurigen: Ich fühle mich einfach nicht wohl, wenn zehn Leute reden und keiner zuhört. Mir reicht ein Gesprächspartner. Aber gut, ich komme dem halt doch nicht immer aus. Und dann gebe ich entweder den Alleinunterhalter und rette mich von einem seichten Witz zum anderen in der Hoffnung, dass keine drei Leut’ gleichzeitig auf mich einreden wollen. Oder ich sitze stumm in einer Ecke und hoffe auf einen schnellen Tod.

Slalom des Einsiedlers

Manchmal beuge ich mich dann zu meiner Frau und flüstere ihr zärtlich ins Ohr: "Hab wenigstens den Anstand und erschieß mich!" Sie lächelt dann milde, manchmal schiebt sie mir auch noch ein Glas Wein zu. Ja, als Einsiedler fährt man in Gesellschaft oft einen Slalom zwischen Alkoholismus und Depression.

Sogar die Chefs des STANDARD nehmen mich so, wie ich bin. Ich darf schon seit Jahren von zu Hause aus arbeiten. In Ruhe. Daheim – wir leben inzwischen wieder auf dem Land, in der Stadt waren mir zu viele Leute – habe ich ein perfekt eingerichtetes Büro, das niemand betreten darf außer den Katzen – und meiner Frau, wenn sie sich verabschiedet oder von der Arbeit heimkommt. Oder wenn sie mich in der Küche braucht.

Restaurants besuchen wir eher selten. Das liegt aber wohl daran, dass wir glauben, selbst ein bisserl besser zu kochen als die Professionisten der Umgebung. Meine Frau haben die Lockdowns übrigens auch nicht wahnsinnig gestört. Bis auf einen Punkt.

Bussi und fremder Atem

Konzerte. Sie liebt es, auf Konzerte zu gehen. Je größer das Spektakel ist, desto wohler fühlt sie sich. Ich werd schon nervös, wenn ich nur an den Einlass denk. So viele Menschen, so wenig Abstand! Da ist ja Händegeben und Bussi links, Bussi rechts, und noch einmal mit guten Bekannten noch eine Wohltat gegen ein Konzert, gegen den fremden Schweiß eines Typen, der dich dauernd rempelt, dir auf die Füße steigt und, in Bierdunst gehüllt, falsche Texte in abartigen Tönen an die Öffentlichkeit lässt, als wüssten die auf der Bühne nicht besser, wie das Lied klingen soll. Ja, in diesem Wirbel lebt meine Frau auf. Manche Konzerte besucht sie inzwischen ohne mich. Zu anderen gehe ich mit und versuch mich zu benehmen.

Sogar auf Urlaub hat sie mich schon allein geschickt. Zehn Tage. In eine Therme, wo nur alte Leute sind und mich niemand kennt. Nach fünf Tagen war ich wieder daheim. Man kannte mich inzwischen und wollte bei jeder Gelegenheit smalltalken. Ich hab zum Frühstück sogar fremde Zeitungen gelesen, um ein Schutzschild zu haben. Aber die anderen Thermisten wollten partout übers Wetter reden.

Smalltalk. Ich kann ihn nicht, ich mag ihn nicht, ich finde ihn peinlich. Wenn mich an meinem Gegenüber nur dessen Suderei über das Wetter interessiert oder ob ihm schmeckt, was er gerade isst, dann kann ich es doch gleich sein lassen, oder? "Können Sie mir den Salat empfehlen?" – Ja, wer bin ich denn, dass ich weiß, was dir schmecken wird? Ich verstehe die Frage nicht. Probier und triff deine Entscheidung. Ich hab es auch so gemacht und bin super damit gefahren. Das kann ich dir empfehlen. Und dann sage ich: "Es ist grüner Salat mit Apfelessig und Kernöl", also genau das, was auf dem Schild vor der Schüssel steht. Am Ende ist es für alle unbefriedigend.

Zurück ins alte Leben

Sie sehen also, mir ist es nicht abgegangen, dass mich außer meiner Frau niemand umarmt und küsst. Dass mir keiner ungefragt seine Lebensgeschichte oder Expertise zu einem Thema, das mich nicht interessiert, ins Ohr schmatzt. Oder noch schlimmer: zu einem, das mich interessiert. Auf einmal dräut mir: Ich muss wohl wieder in dieses Vor-Corona-Leben zurück.

Andererseits wird es vielleicht auch Zeit dafür. In den letzten Wochen tauchten öfter unangemeldet Gäste auf, wollten nur auf ein Bier vorbeischauen. Das kam vorher nie vor. Und da hat dann einer wie ich keine gültige Ausrede und poltert mit der Wahrheit raus. "Tut mir leid, ich kann grad nicht, ich muss arbeiten." – "Dazöh' kan Schas, du bist seit üba an Joahr daham und schickst dei Frau hackln." (Gut, Frau hat er nicht gesagt.)

Mir ging es ja gut

Pandemiegewinner, wie es der Ferdinand hat anklingen lassen, hab ich mich schweren Herzens selbst betitelt. Ich habe schließlich einen Job, es bestand nie größere Gefahr, dass ich mich anstecke, es ging mir mit Abstand gut, während andere litten. An der Krankheit, am Tod eines Freundes oder Familienmitglieds, an der Einsamkeit. Die wenigen Freunde, die ich an mich heranlasse, haben mir ihr Leid geklagt. Und ich kann sie verstehen. Sie waren seit Ausbruch der Pandemie in der falschen Welt gefangen. Jetzt bin ich es bald wieder.

Im August heiratet ein befreundetes Paar. Es wird ein großes Fest. Das Brautpaar, zwei fesche Leut’, werden den Tag ihres Lebens haben. Ich hab ein schlechtes Gewissen. Ich hab ihnen vor der Pandemie versucht, die Heirat auszureden. Nur damit es kein Fest gibt, zu dem ich hinmuss. Die letzten Monate habe ich gehofft, sie hätten vielleicht heimlich geheiratet. Vor wenigen Tagen kam eine Einladung.

Ich freu mich sehr für die beiden, wünsche ihnen die Party ihrer Träume und dass sie keine Sekunde unglücklicher sein sollen, als ich es mit meiner Frau bin. Nur mir traue ich wegen des Festes noch nicht. Aber ich werd mich z'samm'reißen. Versprochen. Hilfeeeee! (Guido Gluschitsch, 29.6.2021)