Simon Wiesenthal betrachtet Ende Oktober 1992 die mit Hakenkreuzen besprühten Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Eisenstadt mit Parolen wie "Sieg Heil" oder "Heil Haider". Ein Täter war Aktivist des Rings Freiheitlicher Jugend.

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Als erstes österreichisches Ministerium arbeitet das Innenministerium seine Vergangenheit im Austrofaschismus und Nationalsozialismus auf. Gemeinsam mit ORF 3 soll eine TV-Dokumentation entstehen, die Ende des Jahres fertiggestellt werden soll. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sagte am Montag bei der Präsentation des Projekts völlige Transparenz und Kooperation zu.

Bisher ggibt es kaum wissenschaftliche Arbeiten dazu. Pionierarbeit leistete Gerald Hesztera von der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit mit seinem 2010 erschienenen Buch "Rot-Weiß-Rot bis in den Tod: Die österreichische Exekutive zwischen Austrofaschismus und Nationalsozialismus". Hesztera arbeitet ebenfalls an der Aufarbeitung im Ministerium mit.

Am Montag wurde das Projekt von ORF und Innenministerium präsentiert.
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Ein Thema wird auch jener Wiener Polizist sein, der Anne Frank verhaftete. Der Mann wurde von Simon Wiesenthal ausfindig gemacht, der so den Verschwörungserzählungen von alten und jungen Nazis ein Ende machte.

14- und 15-jährige Schüler und Schülerinnen störten Theaterstück

Seit der Veröffentlichung ihres weltberühmten Tagebuchs im Jahr 1947 arbeiten sich Holocaust-Leugner, Alt- und Neonazis sowie Antisemiten am dem jüdischen Mädchen ab. Sie hatten rasch gemerkt, wie sehr das Buch Menschen berührt, und erklärten es kurzerhand zu einer Fälschung. Anne Frank habe es nicht gegeben, das Buch sei in Hollywood geschrieben worden und sei Teil einer Verschwörung, lautete eine ihrer Erzählungen. Diese falschen Behauptungen fanden sich auch auf Flugzetteln, die 14- und 15-jährige Schüler und Schülerinnen im Jahr 1958 auf die Bühne des Linzer Landestheaters warfen, als dort gerade das Stück "Das Tagebuch der Anne Frank" aufgeführt wurde. "Das ist eine Lüge, Anne Frank hat nie existiert, das Tagebuch ist eine Fälschung, das ist nur, um die Deutschen zu blamieren. Glaubt nicht ein Wort davon", war darauf zu lesen.

Anne Frank
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Diese Provokation veranlasste Simon Wiesenthal, sich auf die Suche nach jenem Mann zu machen, der das Mädchen einst in Amsterdam verhaftete. Nach der Störung des Theaterstücks hatte ein Jugendlicher den Nazijäger Wiesenthal aufgefordert, "denjenigen zu finden, der Anne Frank verhaftet hat. Wenn der das bestätigt, würde ich glauben, dass sie gelebt hat und von den Nazis umgebracht wurde."

Anne Frank. Ihr Tagebuch berührt und bewegt Menschen. Es ist Weltliteratur, wurde in fast 70 Sprachen übersetzt und von Millionen Menschen gelesen. Ab 1. Juli ist nun bei Netflix eine Filmadaption des Buches zu sehen, ergänzend erzählt der Streaminganbieter mit "#AnneFrank Parallel Stories" die Geschichte von Anne Frank und von fünf Überlebenden des Holocausts nach.
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Nach fünf Jahren Suche hatte Wiesenthal den SS-Oberscharführer im deutschen Sicherheitsdienst (SD) Karl Silberbauer ausfindig gemacht, der Frank und ihre Familie in Amsterdam verhaftet hatte. Der aus Wien stammende Gestapo-Mann wurde 1943 in die Niederlande versetzt. Frank lebte mit ihrer Familie von 1942 bis 1944 im Hinterhaus an der Prinsengracht 263 im Versteck vor den Nationalsozialisten und schrieb dort auch ihr Tagebuch. Die insgesamt acht Untergetauchten wurden 1944 verraten und in Konzentrationslager deportiert. Anne Frank starb im Frühjahr 1945 im Alter von 15 Jahren in Bergen-Belsen.

Anrechnung für die Pension

Der aus Wien stammende Silberbauer, der nach dem Krieg als Polizist in der Hauptstadt arbeitete, bestätigte die Verhaftung Anne Franks. Ein gegen ihn eröffnetes Verfahren wurde aber 1964 eingestellt, da er auf Befehl gehandelt hatte, wie das Gericht befand. Eine Sichtweise, die damals nicht nur von zahlreichen seiner Kollegen bei der Wiener Polizei geteilt wurde. Auch in einem Disziplinarverfahren wurde er freigesprochen, sodass er bis zur Pensionierung – mit der (damals üblichen) Anrechnung seiner Tätigkeit für Gestapo und SD als Vordienstzeit – wieder als Polizist arbeiten konnte. Silberbauer verstarb 1972. Nach seinem Tod wurde bekannt, dass er nach 1945 auch für die Organisation Gehlen tätig war, den Vorläufer des deutschen Auslandsgeheimdiensts BND (Bundesnachrichtendienst).

Ein großer Schlag gegen die Neonazis

Für Wiesenthal war das Aufspüren von Silberbauer ebenso wichtig wie die Entdeckung Franz Stangls, des Kommandanten des NS-Vernichtungslagers Treblinka, wie er in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin "Profil" 1993 sagte. Und es "war der größte Schlag gegen die Neonazis". Danach tauchte der Name Anne Frank in den Publikationen von Neonazis über Jahre nicht mehr auf.

Bis Anfang der 1980er-Jahre. Der 2018 verstorbene Wiener Neonazi und Herausgeber der berüchtigten Zeitschrift "Halt", Gerd Honsik, erfand immer wieder Geschichten, die belegen sollten, dass das Tagebuch eine Fälschung sei. In seinem Buch "Freispruch für Hitler?" präsentierte er einen vermeintlichen Zeugen dafür. Österreichs bekanntester Neonazi, Gottfried Küssel, verteilte 1986 anlässlich der Ausstellung "Die Welt der Anne Frank" Flugblätter in Wien, in denen das Tagebuch als von Juden erfundene "Lüge" bezeichnet wurde. Ziel der Lügengeschichten war die "Wiederzulassung der NSADP" – und diesem Vorhaben standen die Verbrechen der Nazis entgegen. Bis vor wenigen Jahren gingen Neonazis davon aus, dass die NSDAP bei Wahlen in Österreich die Mehrheit der Stimmen bekommen würde. Nebenbei sorgten die Erzählungen für Spenden betuchter Alt- und Neonazis. Erst die Verschärfung des NS-Verbotsgesetzes Anfang der 1990er-Jahre setzte diesem Treiben mehr oder weniger ein Ende – die Verbrechen der Nazis werden seither nicht mehr offen geleugnet, zerredet, verglichen oder als Randnotiz der Geschichte abgetan.

"Das finde ich so widerwärtig. Das finde ich so ekelhaft"

Wie sehr Anne Frank bei Rechtsextremen verhasst ist, zeigte sich erst wieder vor wenigen Wochen in Deutschland. In einer Talkshow erhob die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht schwere Vorwürfe gegen Tino Chrupalla, Spitzenkandidat und Bundessprecher der AfD. Wagenknecht sprach ihn darauf an, dass ein AfD-Politiker in Sachsen-Anhalt mit der Neonazi-Szene verwoben sei.

"Ihr Spitzenkandidat hat sich in einer Facebook-Gruppe wohlgefühlt, die es witzig fand, das Bild des von den Nazis ermordeten Mädchens Anne Frank auf eine Pizzaschachtel zu montieren und darunter zu schreiben: ofenfrisch", sagte Wagenknecht zu Chrupalla. "Das finde ich so widerwärtig. Das finde ich so ekelhaft."

AG-Chats

Widerwärtig und ekelhaft waren auch die 2017 von Medien veröffentlichten Chats und Postings von Funktionären der ÖVP-nahen Aktionsgemeinschaft am Juridicum der Uni Wien. Diese vertrieben sich mit Judenwitzen und Spott über Behinderte die Zeit. In einer Whatsapp-Gruppe sowie der geschlossenen Facebook-Gruppe "Fakultätsvertretung Jus Männerkollektiv" tauschten sich die Studentenvertreter regelmäßig aus. Neben allerlei sexistischen und antisemitischen Sprüchen war unter dem Titel "Leaked Anne Frank Nudes" ein Haufen Asche samt einer Rose zu sehen. Funktionäre wurden daraufhin von AG und JVP ausgeschlossen. (Markus Sulzbacher, 29.6.2021)