Als Karl Kraus am 12. Juni 1936 in seiner Wohnung in der Wiener Lothringerstraße 6 starb, hinterließ er eine überschaubare Bibliothek, unüberschaubare Berge von Briefen und Korrekturfahnen, an den Wänden seiner Wohnung zahllose Fotografien bewunderter und geliebter Personen, darüber hinaus ein verworrenes Testament sowie einen maroden Verlag. Er hinterließ eine im Lauf seines jahrelangen Schaffens und hunderter öffentlicher Vorlesungen an sich gebundene, am Ende schwindende und tief gespaltene Gefolgschaft sowie zahllose Feinde in allen politischen Lagern; außerdem etwas über dreißig Buchpublikationen, bestehend aus Gedichtbänden, Dramen, Essaybänden, und mit den siebenunddreißig Jahrgängen der "Fackel" eine der wichtigsten Zeitschriften des zwanzigsten Jahrhunderts: 22.500 Seiten, die ein kulturhistorisches Monument Österreichs von den letzten Jahren der Monarchie bis zum Ende der Ersten Republik darstellen und zugleich einen in sich abgeschlossenen Kosmos, bestimmt von der Ästhetik und Ethik, den Vorlieben und Feindschaften ihres Herausgebers und hauptsächlichen – ab 1911 praktisch alleinigen – Autors Karl Kraus.

Über die Jahrzehnte seines Schaffens hinweg begleitete den Polemiker und Satiriker Karl Kraus – er wurde am 28. April 1874 im böhmischen Jíčin, im heutigen Tschechien, als neuntes von zehn Kindern eines jüdischen Papierfabrikanten geboren – der Vorwurf, er würde nichts Positives, keine Werte schaffen. Er sei einer, der "nur niederreißen, aber nicht aufbauen" könne. Er sei ohne seine Abneigungen und Feindschaften nicht lebensfähig.

Kraus hat sich gegen dieses Verdikt zur Wehr gesetzt, sicher zurecht. Dabei ist es bezeichnend, dass nicht der schlechteste Weg in seine Biographie gerade über die Rollen und Zuschreibungen führt, die Kraus abgelehnt hat oder an denen er gescheitert ist.

Theaterliebe und Vorleser

Zuerst das Scheitern: Kraus’ Begeisterung für das Theater ging zurück auf seine früheste Jugend, auf die Klassiker im alten Burgtheater und die Operetten und Lustspiele des Ischler Sommertheaters. Sein Versuch, eine Theaterlaufbahn einzuschlagen, endete unrühmlich: Im Jänner 1893 trat er, zum einzigen Mal auf einer öffentlichen Bühne, als Franz Moor in Schillers "Räubern" auf. Unter den Augen von Freunden und Bekannten aus den Zirkeln der Wiener Kaffeehäuser, etwa Arthur Schnitzler, Felix Salten und Richard Beer-Hofmann, fiel er durch.

Sein Element war indes die Rezitation. Als Vorleser fremder Werke hatte er schon im Jahr davor vor geladenen Gästen reüssiert; im Sommer und Herbst 1893 feierte er mit der Lesung von Gerhart Hauptmanns "Die Weber" in Ischl, München und Wien Erfolge. Von 1910 an bis zu seinem Tod las er 700 Mal – aus eigenen Schriften, aber auch aus Werken Shakespeares, Goethes, Hauptmanns, Frank Wedekinds und Peter Altenbergs, ab 1926 nicht zuletzt Jacques Offenbachs. Über seine Fähigkeit, das gesprochene Wort zu gestalten und das Publikum in den Bann seiner wortgewaltigen Polemiken zu schlagen, kann man etwa in Elias Canettis Autobiographie ("Die Fackel im Ohr", 1980) nachlesen.

Karl Kraus, Porträt von Charlotte Joël-Heinzelmann, 1921.
Foto: Bildarchiv Austria

Der Anti-Journalist

In ihren Attacken, ja noch in ihren Nachrufen bezeichneten Kraus' Gegner ihn als Journalisten, – als "großen Journalisten" (Imre Békessy), als "begabtesten Journalisten der wienerischen Gegenwart" (Anton Kuh). Da war durchaus auch Bosheit dabei: Karl Kraus war kein Journalist, und das mit Inbrunst. Zwar hatte Kraus sehr früh, schon als Gymnasiast, Beiträge für verschiedene Zeitungen geschrieben, auch für die "Neue Freie Presse", die ihm einen Posten in der Feuilletonredaktion anbot. Stattdessen gründete er als gerade Fünfundzwanzigjähriger mit einem Darlehen seines Vaters eine eigene Zeitschrift. Ihr Leitthema war der Kampf gegen den Journalismus, die "Neue Freie Presse" einer ihrer wichtigsten Gegner. Vor allem in ihren frühen, reformatorischen Jahren widmete sie sich darüber hinaus auch Missständen und Korruption im Kulturbetrieb, in der Verwaltung, in der Rechtsprechung. Die Zeitschrift erhielt den Namen "Die Fackel".

Nachdem sie unter anderem Heinrich Lammasch, Wilhelm Liebknecht, Joseph Schöffel und Erich Mühsam eine Plattform geboten und sich ab Oktober 1903 auch für literarische Texte zahlreicher von Kraus geschätzter Zeitgenossen geöffnet hatte (darunter Peter Altenberg, Frank Wedekind, August Strindberg, Detlev von Liliencron, Heinrich Mann, Else Lasker-Schüler und Berthold Viertel), trug die Zeitschrift ab Dezember 1911 den Vermerk: "Sämtliche Beiträge von Karl Kraus."

Mit der "Fackel" gegen die "Preßmaffia"

Im Zeitungsjournalismus sah Kraus ein Medium, das falsch informierte und ganz unverhüllt bestechlich war (das "Preßgesetz", das die Auszeichnung von bezahlten Inhalten forderte, wurde erst 1922 erlassen). Aber noch viel grundsätzlicher war für Kraus dieses Medium, das seinen Konsumenten den Zugang zur Wirklichkeit nicht eröffnete, sondern verstellte. Weil es die Vorstellungskraft seines Publikums lähmte, ermöglichte es in Kraus' Augen überhaupt erst den Weltkrieg sowie später Hitlers Machtergreifung. Beides seien Konsequenzen der Abstumpfung des Publikums durch journalistische und feuilletonistische Phrasen, durch die Vermischung von Meinung und Bericht, die Auswahl in der Darstellung, sogar noch durch die Anordnungen am Zeitungsblatt.

All dem hält Kraus ein Ethos sprachlicher Präzision und Angemessenheit entgegen, und die Überzeugung, dass die Sprache den verrät, der sie unbedacht spricht. Kraus las Zeitung mit der Schere in der Hand, um dann seine Fundstücke aus Sprache und Schriftbild des Journalismus genüsslich und vor Publikum zu sezieren. In der "Fackel" betrieb er Kampagnen gegen prominente Gegner aus Journalismus und Literatur, die er oft jahrelang unbeirrbar (und, aus der Außenperspektive: manchmal ohne rechten Sinn für Proportionalität) verfolgte. Vielfach trug Kraus seine Fehden auch vor Gericht aus, ab 1922 sekundiert von seinem tatkräftigen Anwalt Oskar Samek.

Die Liste von Kraus’ "Erledigungen" setzt ein mit dem früheren Förderer Maximilian Harden; eine intensive Feindschaft verband ihn auch mit Alfred Kerr (dem er unter anderem dessen kriegshetzerische Lyrik zum Vorwurf machte). Während er gegen Imre Békessy, den korrupten Herausgeber des Revolverblatts "Die Stunde", einen Sieg errang – Békessy musste aus Österreich fliehen –, scheiterte Kraus an Johann Schober, dem Wiener Polizeipräsidenten, den Kraus für das Juli-Massaker 1927 verantwortlich machte. War Schober derjenige Gegner, der Kraus durch Ungerührtheit abprallen ließ, dann muss Anton Kuh, gegen den Kraus eine Reihe von Ehrenbeleidigungsprozessen führte, als der rhetorisch wendigste unter ihnen gelten.

Frauen und Frauenbilder

"Das Wort 'Familienbande' hat manchmal einen Beigeschmack von Wahrheit", lautet ein Aphorismus von 1907; Kraus war kein Familienmensch. Die Lebensweise des Junggesellen schien ihm der Geistesarbeit am angemessensten. Von Ehe und Kernfamilie abgesehen, deckten seine Verhältnisse zu Frauen fast jeden denkbaren Modus intimer Beziehungen ab: Das Andenken der jung verstorbene Schauspielerin Annie Kalmar trug er zeit seines Lebens mit sich, ihre Büste stand bis zuletzt in seiner Wohnung. Mit der vierzehn- oder fünfzehnjährigen Irma Karczewska hatte Kraus ein Verhältnis, das, damals legal, dennoch zweifellos missbräuchlich war und zu dessen Bemäntelung ein aufs Sinnlich-Erotische reduziertes Frauenbild diente. Intellektuelle Frauen, mit denen er später in Verbindung trat, wie etwa Mechtilde Lichnowsky, Helene Kann und Gina Kaus, widersprachen diesem Klischee.

Die wichtigste Frau in Kraus' Leben war Sidonie Nádherný von Borutin, die Kraus 1913 kennenlernte und der gegenüber er sogar – erfolglose – Heiratsabsichten hegte. Ihre eigene standesgemäße Ehe scheiterte schnell. Bis zu Kraus’ Tod, über 23 Jahre, in die auch Brüche und Verstimmungen fielen, blieb sie der wichtigste Mensch in seinem Leben, ihr Schloss Janowitz mit seinem Schlosspark eine wichtige Zuflucht.

"Kein parteimäßig Verschnittener"

Kraus war, wenn schon nicht unpolitisch, so doch "kein parteimäßig Verschnittener", wie er schon auf der ersten Seite der "Fackel" schreibt. Er machte einige politische Wandlungen durch: Anfangs antiliberal, konservativ und monarchistisch eingestellt, zeichnete er 1914 im ersten Ausbruch der Begeisterung sogar Kriegsanleihen. Die jahrelange Arbeit an seinem monumentalen Weltkriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" (1922) zeigt ihn in seiner Entwicklung zum Pazifisten und Republikaner, zum Kritiker von Monarchie, Militär und Kriegsgewinnlern.

Seine längste und engste politische Verbindung galt der Sozialdemokratie (und unter ihren Vertretern Friedrich Austerlitz). 1900 und 1919 gab er Wahlempfehlungen für sie ab. Anfang der 1920er-Jahre kann man von einer politischen und kulturellen Zusammenarbeit sprechen; 1927 vertrat Kraus vehement die Sache der beim Justizpalastbrand massakrierten Arbeiterschaft. Allerdings fußten die Gemeinsamkeiten mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf Missverständnissen. Für Kraus traten wirtschaftliche Zusammenhänge, so er sie erkannte, hinter seine letztlich konservativen Ursprungs- und Naturideale zurück; die sozialdemokratischen Anschlussbestrebungen, im Parteiprogramm seit Beginn der Republik, verachtete er.

Justizpalastbrand am 15. Juli 1927, Fotografie von Lothar Rübelt.
Foto: Bildarchiv Austria
Totenmaske von Karl Kraus, angefertigt von Karl Járay, 1936.
Foto: Bildarchiv Austria

Den "Anschluss" 1938 hat Kraus nicht mehr erlebt, sehr wohl jedoch kommen sehen und gefürchtet. Während sein eigenes Verhältnis zum Judentum spannungsreich war (und er selbst immer wieder antisemitische Klischees bediente), sah er die Gefahr des Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung sehr deutlich. Am Ende seines Lebens war er deshalb weder Demokrat noch Republikaner, sondern Fürsprecher des faschistischen Ständestaates, als der einzigen (wenngleich trügerischen) Hoffnung gegen Hitler – zur großen Irritation seiner Anhängerschaft. Die "Dritte Walpurgisnacht", die seine bestechend klare Analyse der NS-Maschinerie und zugleich eine Stellungnahme für Dollfuß enthielt, schrieb er 1933. Dieser Text blieb unveröffentlicht und wurde nur auszugsweise und zur Unzeit – 1934, nach den Februarkämpfen, dem Verbot der Sozialdemokratie und der ständestaatlichen Maiverfassung – in der "Fackel" publiziert. Zahlreiche Freunde und Bewunderer – unter ihnen Berthold Viertel, Bertolt Brecht und Walter Benjamin – wandten sich danach von Kraus ab.

Zwei Jahre später erlag Kraus einem Herzleiden. Seine letzten Worte könnten, mit Blick auf die von ihm erahnte Zukunft, nicht treffender sein: "Es ist etwas nicht geheuer." (Bernhard Oberreither, 30.6.2021)