Eine junge Scharlachnatter (Cemophora coccinea) findet sich in Georgia, USA, im Netz einer Schwarzen Witwe (Latrodectus geometricus) wieder.
Foto: Daniel R. Crook

Im Beuteschema einer typischen Spinne kommen hauptsächlich Insekten vor. Was freilich bisher weniger bekannt war: Einige Arten bereichern ihren Speiseplan auch mit Wirbeltieren – und hier insbesondere mit Schlangen, wie Zoologen verblüfft festgestellt haben. Das belegt eine Auswertung von 319 dokumentierten Fällen, die nun im "Journal of Arachnology" erschienen ist.

Wie der Spinnenforscher Martin Nyffeler von der Universität Basel mit seinem Kollegen von der amerikanischen University of Georgia, Whitfield Gibbons, herausfand, kommt es auf sämtlichen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis vor, dass Spinnen auch Schlangen fressen. 80 Prozent der untersuchten Vorfälle sind in den USA und in Australien beobachtet worden.

In Europa ließ sich dieses Fressverhalten von Spinnen hingegen bisher nur ganz selten feststellen – das heißt in weniger als ein Prozent der berichteten Vorfälle – und beschränkt sich auf den Verzehr von winzigen, ungiftigen Schlangen der Familie Blindschlangen (Typhlopidae) durch kleine Netzspinnen.

Erfolgreiche Schwarze Witwen

In der Schweiz wurde noch nie eine Spinne beobachtet, die eine Schlange fraß. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die einheimischen Nattern und Vipern auch als frisch geschlüpfte Jungtiere zu groß und zu schwer sind, als dass dort heimische Spinnen sie überwältigen könnten.

Eine junge Gewöhnliche Strumpfbandnatter (Thamnophis sirtalis) wurde in Georgia, USA, Opfer einer Braunen Witwe (Latrodectus geometricus).
Foto: Julia Safer/Nyffeler, Gibbons

Die Datenanalyse zeigte weiter, dass Spinnen aus elf verschiedenen Familien in der Lage sind, Schlangen zu erbeuten und zu fressen. "Dass so viele verschiedene Spinnengruppen gelegentlich Schlangen fressen, ist eine völlig neue Erkenntnis", betont Nyffeler.

In etwa der Hälfte aller beobachteten Vorfälle waren Schwarze Witwen aus der Familie Kugelspinnen (Theridiidae) die erfolgreichen Jägerinnen. Ihr potentes Gift enthält ein Toxin, welches spezifisch auf das Nervensystem von Wirbeltieren einwirkt. Zudem bauen diese Spinnen Netze aus extrem reißfester Spinnseide, mit welchen sie auch größere Beutetiere wie Eidechsen, Frösche, Mäuse, Vögel und eben Schlangen fangen können.

Bis zu einen Meter lange Schlangen

Eine weitere neue Erkenntnis aus der Meta-Analyse: Spinnen können Schlangen aus sieben verschiedenen Familien überwältigen. Sie sind in der Lage, Schlangen zu bezwingen, die zehn- bis 30-mal größer sind als sie selber. Die größten von Spinnen erbeuteten Schlangen sind bis zu einem Meter lang, die kleinsten nur etwa sechs Zentimeter. Die mittlere Länge der erbeuteten Schlangen betrug gemäß den statistischen Auswertungen der beiden Forscher 26 Zentimeter. Die meisten erbeuteten Schlangen waren sehr junge oder frisch geschlüpfte Tiere.

Eine Vielzahl von Spinnenarten, die gelegentlich Schlangen töten und fressen, verfügen über Gifte, die auch für den Menschen tödlich sein können. Die Gifte verschiedener Spinnenarten wirken also in ähnlicher Weise auf das Nervensystem von Schlange und Mensch. Deshalb können Beobachtungen über wirbeltierfressende Spinnen auch für die Neurobiologie bedeutungsvoll sein, da sie Rückschlüsse auf den Wirkungsmechanismus von Spinnenneurotoxinen auf Nervensysteme anderer Wirbeltierarten gestatten.

"Während die Wirkungsweise des Gifts von Schwarzen Witwen auf das Nervensystem von Schlangen bereits gut erforscht ist, fehlt solches Wissen noch weitgehend für andere Spinnengruppen. Es besteht also noch großer Forschungsbedarf, um herauszufinden, welche spezifisch auf das Nervensystem von Wirbeltieren wirkenden Giftkomponenten dafür verantwortlich sind, dass Spinnen wesentlich größere Schlangen durch einen Giftbiss lähmen und töten können", sagt Nyffeler.

Auch Giftschlangen unter den Opfern

Die erbeuteten Schlangen sind allerdings selbst alles andere als wehrlos: Etwa 30 Prozent gehören zur Gruppe der Giftschlangen. In den USA und Südamerika werden gelegentlich hochgiftige Klapper- und Korallenschlangen von Spinnen getötet. In Australien fallen oft Scheinkobras (brown snakes), welche zur selben Familie wie die Kobras gehören, Rotrückenspinnen (Australische Schwarze Witwen) zum Opfer. "Diese Scheinkobras gehören zu den giftigsten Schlangen der Welt, und es ist sehr faszinierend zu beobachten, dass sie im Kampf mit Spinnen jeweils unterliegen", so Nyffeler.

Wenn eine Spinne eine Schlange erbeutet hat, frisst sie oft stunden- bis tagelang an einem solchen Happen. Spinnen sind Tiere mit einem unregelmäßigen Fressrhythmus: Bei hohem Nahrungsangebot fressen sie im Übermaß, um dann wieder lange Zeit zu hungern. Überschussnahrung können sie als Energiereserve speichern und zur Überbrückung längerer Hungerperioden nutzen. Dennoch frisst eine Spinne oft nur einen kleinen Teil einer toten Schlange. Was übrig bleibt, wird später von Aasfressern wie Ameisen, Wespen, Fliegen und Schimmelpilzen konsumiert. (red, 29.6.2021)