Es fährt ein Zug nach nirgendwo: Wer Europa liebt und den felsigen Karst sehen möchte, setzt auf die Kraft des Schienenverkehrs.

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Seit die Verabreichung der Doppelinjektion einen Gutteil der Staatsbürger pandemisch auf die sichere Seite versetzt hat, darf die Sehnsucht uneingeschränkt in die Ferne schweifen. Vorbei die Zeit, als das geruhsame Faulen heimischer Tümpel uns die Brandung der sieben Weltmeere ersetzt hat. Endlich können wir Ferragosto wieder mit dem geduldigen Abnagen von Singvogelskeletten zubringen. Wenigstens fußballerisch trennen unsere Völker, das alpine wie das abruzzische, erwiesenermaßen keine Welten mehr.

Vor vielen Jahren, als die blutrote Sonne Bruno Kreiskys gerade hinter der Horizontlinie verschwunden war, hatten es junge Menschen nicht so kommod, dafür aber einfacher. Sie erwarben ein sogenanntes Interrail-Ticket. Dieses sinnreiche Stück Karton versetzte seinen Inhaber in die glückliche Lage, wirklich ganz Europa bereisen zu dürfen, und zwar kreuz und quer.

Es sei denn, es stand dem jungen Tutter der Sinn nach Kaffeerösten in Nicaragua. Für den Einsatz in einer Erntebrigade – angereichert mit Lagerfeuerromantik, Lenin-Kunde und einem Schuss Befreiungstheologie – musste sich jeder angehende Revolutionär mit der Linkspartei seines Vertrauens ins Benehmen setzen.

Auf dem sicheren Landweg

Billiger kam es da, gemeinsam mit der Dame des Herzens auf dem sicheren Landweg nach Athen zu schaukeln: Interrail sei Dank. Bereits hinter Spielberg waren die Wasservorräte aufgebraucht. Der mitgeführte Käse zerschmolz gnadenlos unter der Sonne Nordmazedoniens – wie es dem Zug überhaupt gefiel, im Bahnhof von Skopje, träge wie eine Katze, viele Stunden lang reglos in der sengenden Mittagshitze auszuharren.

Man lernte Hühner kennen, die neugierig durch die Abteile spazierten. Zahnlose Mitreisende, unter ihnen verdiente Gefolgsleute Titos, priesen die Schönheiten ihrer Heimat mit Händen und Füßen an. Spätestens jetzt eierte auch der mitgeführte Walkman; Elvis Costello, der krächzende Spötter, verstummte für immer.

Nach 72 Stunden rollte die Garnitur scheppernd in den Athener Hauptbahnhof ein. Ich, ein kindlicher Babyboomer, fühlte mich vollkommen frei: Sogar meine Begleiterin überließ mich von nun an zur Gänze mir selbst. (Ronald Pohl, 30.6.2021)