Deschamps klatscht mit Mbappé ab.

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Frankreich hadert mit einem Elfmeter, der die "Blauen" sekundenschnell auf den harten Boden der Realität geholt hat. Kylian Mbappés Schuss hätte wiederholt werden müssen, weil der Schweizer Torhüter Yann Sommer die Torlinie vor dem Schuss verlassen habe, schrieb ein französischer Fußballfan ins Forum der Sportzeitung "L’Équipe". Ein anderer stellte klar, Sommer habe im Moment des Schusses reglementkonform einen Fuß auf der Linie belassen.

So oder so ist Frankreich ausgeschieden. Les Bleus, wie gehabt: hoch gelobt, tief gefallen. Zum Besten fähig, aber plötzlich aus dem Rennen. Jeder Spieler mit dem Potenzial zum Turniersieg, kollektiv jedoch ohne Inspiration und Leidenschaft. Etwa zwanzig Minuten lang, Mitte der zweiten Halbzeit, zeigten sie, was sie können, wenn sie wollen. Die übrige Zeit hätten die Spieler "kein Feuer in den Beinen" gehabt, sagte Bixente Lizarazu, der mit der Truppe um Zinédine Zidane 1998 den ersten Weltmeistertitel Frankreichs geholt hatte.

Noch trister wirkt dagegen Mbappé, der Frankreich aus dem Turnier geschossen hat. Dem Stürmerstar wird nun vorgerechnet, dass er von sechs Schüssen deren sechs am Tor vorbeigezielt habe; dass er von acht Duellen sechs verloren, von fünf Strafraumpässen fünf vermasselt habe. "Warum nur?", fragt "L’Équipe". Die größte Sportzeitung des Landes wundert sich, dass der 22-jährige Wonderboy seit Tagen "stumm wie ein Fisch" geblieben sei. Was dahintersteckt, vermögen allerdings auch Insider nicht zu sagen.

Mbappés Größe

Immerhin fand Mbappé nach seinem verschossenen Penalty aufrichtige Worte. "Es tut mir leid. Ich wollte dem Team helfen, aber ich bin gescheitert. Ich werde Mühe haben, Schlaf zu finden." Auch zeigte er Größe vor dem Gegner, wünschte er der Schweiz doch viel Glück gegen Spanien. Das ist in Frankreich keine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht im Moment einer nationalen Katastrophe.

Ein Überlebender des "kollektiven Untergangs" ("L’Équipe") ist Karim Benzema. Das Enfant terrible hat seinen Fluch in der französischen Nationalmannschaft – in der er vor der EM kaum je so gut gespielt hatte wie bei Real Madrid – wohl endgültig gebrochen. Politisch entbehrt das nicht einer gewissen Ironie, war "Benz" doch von der extremen Rechten regelmäßig als "schlechter" Franzose gebrandmarkt worden, weil er die Marseillaise nicht singt. Jetzt erzielte er in vier Spielen vier Tore, Mbappé aber keines.

Der Spieler, der Frankreichs Schicksal am ehesten widerspiegelt, ist Paul Pogba. Der Mittelfeldstratege von Manchester United schlug einmal mehr die besten Pässe und erzielte das schönste Tor zum 3:1. Aber auch seine Übersicht und seine Eleganz genügten nicht, sein Stern leuchtete zu sporadisch, zu kurz.

Und so war es für die ganze Mannschaft. Den Spielerstars sei der zweite Weltmeisterstern von 2018 offenbar zu Kopf gestiegen, sagen die frustriertesten Fans unter Verwendung des trefflichen Ausdrucks "avoir le melon" – einen Kopf so dick wie eine Melone zur Schau tragen. Die Bleus seien in Bukarest angetreten, als wären sie schon für die nächste Runde qualifiziert. Dabei hatte ihnen Trainer Didier Deschamps klargemacht, dass ab dem Achtelfinale jede Partie wie das große Finale sei.

Deschamps, Weltmeister von 1998 (als Spieler) und 2018 (als Trainer), stand selbst in der Kritik. In vier EM-Spielen habe "Papa la bricole" (etwa: der Bastleronkel) vier verschiedene taktische Muster versucht, hält ihm Le Monde vor. Das 3-4-3 gegen die Schweiz sei der erste krasse Fehler seiner erfolgreichen Trainerkarriere gewesen: Es habe die eigenen Spieler verwirrt, die Verteidigung entblößt und die Schweizern zu Steilvorstößen eingeladen.

Deschamps ist keine Frage

Deschamps versuchte zu verallgemeinern: "Wenn wir jetzt ausscheiden, dann haben wir halt nicht verdient weiterzukommen." Die französischen Sportjournalisten gaben sich damit aber nicht zufrieden und stellten auch die Frage nach dem Rücktritt von DD. "Weitermachen oder nicht", sagte der, "das ist momentan nicht die Frage."

Ein Vorteil hatte das Scheitern. Die Fans müssen nicht zum Spiel gegen Spanien in Sankt Petersburg reisen. Schon vor dem Spiel gegen die Schweiz hatte Sportministerin Roxana Mărăcineanu angesichts der Covid-19-Lage davon abgeraten, nach Russland zu fahren. (Stefan Brändle, 30.6.2021)