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Abstand halten, das war einmal. Maske tragen, das war einmal. Die Zuschauerstrategie der Uefa stößt auf Unverständnis.

Foto: REUTERS/ SETTERFIELD

Schon bevor die Massen in den Fußball-Tempel strömten, war das Maß für die Politik-Prominenz voll. Am Tag des EM-Achtelfinalspiels zwischen England und Deutschland in Wembley haben zahlreiche Spitzenpolitiker heftiger denn je gegen die "unverantwortliche" und "unverfrorene" Zuschauerstrategie der Uefa gewettert. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer sowie die Ministerpräsidenten Markus Söder (Bayern) und Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg) machten ihrem Ärger Luft.

Dass 45.000 Fans in London zugelassen wurden, hält Seehofer angesichts der zugespitzten Corona-Lage in Großbritannien, der Furcht vor der Delta-Variante und der Warnungen vor der paneuropäischen Endrunde als Superspreader-Event für "unverantwortlich". Stattdessen forderte der CSU-Politiker in der Süddeutschen Zeitung, die Zuseherzahlen "deutlich nach unten zu korrigieren".

In Großbritannien steigt die Zahl der Neuinfektionen nach einem monatelangen Sinken inzwischen wieder an, zuletzt wurden täglich mehr als 22.000 neue Ansteckungen registriert. Ein großer Teil der Corona-Infektionen geht dabei auf die Delta-Variante zurück. Kein Wunder, dass kürzlich schon die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihre Bedenken zur Ticketpolitik der Uefa angemeldet hatten.

"Das ist verantwortungslos"

Kretschmann wurde noch deutlicher, er zeigt sich "fassungslos" aufgrund des "Leichtsinns". Die Bilder jubelnder und einander umarmender Fans seien "absolut das falsche Signal" während einer Pandemie, sagte der Grüne dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Der Plan, jetzt noch mehr Leute in die Stadien zu lassen wie in Wembley, ist unverfroren." Und: "Bei den Spielen in Ungarn oder Dänemark gab es knallvolle Stadien – ohne Abstand, ohne Maske. Das ist verantwortungslos. Jedes dieser Spiele kann damit zum Superspreader-Event werden."

Söder kann die hohe Auslastung in einigen Stadien grundsätzlich nicht nachvollziehen. So ist es für Bayerns Regierungschef unverständlich, dass in Budapest um die 60.000 Zuschauer in die Arena durften. "Ich hätte das in Ungarn so nicht gemacht, hätte das nicht verantworten wollen", sagte der CSU-Politiker der Bild. "Ausgangspunkt für ein Superspreader-Event zu sein, das ist der Fußball in dem Verhältnis nicht wert."

Zuvor hatte bereits die Spitze der EU-Kommission ihre Bedenken angemeldet. Vizepräsident Margaritis Schinas äußerte seine Zweifel an den Spielen in einem vollen Stadion – zu einer Zeit, "in der Großbritannien die Reisefreiheit seiner Bürger in die Europäische Union beschränkt".

Lauterbach für Verlegung

Ähnlich wie der Grieche sieht es SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. "Die Halbfinals und das Endspiel sollten nicht im Londoner Wembley-Stadion stattfinden, sondern an einen anderen Ort verlegt werden", sagte Lauterbach, der sich wie Seehofer für eine Reduzierung der Zuschauerzahl aussprach. "Was man relativ sicher anbieten kann, ist, wenn jeder fünfte Platz besetzt ist. In Wembley wären das bei einem Fassungsvermögen von 90.000 insgesamt 18.000 Sitzplätze."

Doch das Gegenteil ist geplant. Bei den Halbfinalspielen und im Endspiel sollen jeweils sogar über 60.000 Zuschauer in die Arena dürfen. Auch an dem Viertelfinale am Freitag in St. Petersburg hält der Kontinentalverband trotz steigender Fallzahlen fest. Weder die Lage in Russland noch die Infektionen rund um Partien sowie der Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO über Zusammenhänge von EM-Spielen und dem Anstieg der Fälle lassen die Uefa umdenken. Finnische Behörden hatten am Montag mitgeteilt, dass fast 300 Finnen nach der Rückkehr aus St. Petersburg, wo zwei Vorrundenspiele des EM-Neulings stattgefunden hatten, positiv getestet worden seien.

Austragungsorte unter Druck

Die fehlende Einsicht befeuert die Kritik an der Uefa, die seit dem Frühjahr anhält. Damals beschloss der Verband, trotz der Pandemie eine Zuschauer-Garantie von den EM-Gastgeberstädten zu verlangen. Das Vorgehen wurde von vielen Kritikern verständlicherweise als Erpressung gesehen. Wegen des Widerstands aus München stand der deutsche Spielort lange auf der Kippe.

Da Dublin und Bilbao grundsätzlich keine Garantien abgeben wollten, wurden sie gestrichen. Sonderlich traurig darüber dürften die Verantwortlichen dort nach den jüngsten Entwicklungen nicht mehr sein. (sid, red, 30.6.2021)