Auch in der U-Bahn verfolgten die Menschen in Russland die Live-Fragestunde mit ihrem Präsidenten.

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Revolutionär im Design, bekannt im Inhalt. Bei der 21. Ausgabe seines "Direkten Drahts", einer Art TV-Audienz Wladimir Putins, setzte der Kreml auf moderne Technologien. Erstmals konnten Bürger ihre Fragen und Klagen auch per App an den Präsidenten schicken, der sie im Hightechstudio anklickte und beantwortete. Das führte zum Kuriosum, dass Putin mehrmals versuchte, bei aufgezeichneten Videos mit dem Fernseher zu sprechen.

Die Themen waren hingegen altbekannt und wurden heuer noch stärker als gewöhnlich von innenpolitischen und sozialen Fragen dominiert. Den Anfang machte der Kreml-Chef selbst, der im Fernsehen ein Plädoyer für die Covid-Impfungen hielt. Die Impfungen seien nötig, um einen Lockdown zu verhindern, sagte Putin.

Hohe Impfskepsis

Wie potenziell ernst die Lage in Russland ist, wo am Mittwoch laut offiziellen Angaben erneut über 21.000 Neuansteckungen und mehr als 600 Tote festgestellt wurden, verriet allein die Tatsache, dass er einem anrufenden Drittklässler nicht garantieren konnte, im Herbst wieder ganz normal eingeschult zu werden. Das hänge davon ab, inwieweit die Bevölkerung bis dahin gegen das Virus immunisiert sei, sagte Putin.

In Russland ist die Impfskepsis sehr hoch. Die beginnende Impfpflicht in einzelnen Regionen hat bei vielen Menschen Unmut hervorgerufen. Auch deshalb versicherte Putin, dass es auf nationaler Ebene keine allgemeine Impfpflicht geben werde. Nichtsdestotrotz seien besonders schwer betroffene Regionen ermächtigt, Risikogruppen zu impfen, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern, so Putin.

Leicht erhöhte Temperatur

Seinen Angaben nach sind inzwischen 23 Millionen geimpft. Putin selbst hatte sich ja im Februar geimpft und gab nun erstmals den Impfstoff bekannt, der ihm gespritzt wurde – wohl auch, um das Misstrauen der Bevölkerung zu senken. Demnach griff er wenig überraschend auf das erste (von inzwischen vier zugelassenen) russische Vakzin, Sputnik V, zurück.

Einzige Nebenwirkung sei eine leicht erhöhte Temperatur nach der zweiten Dosis gewesen, sagte Putin, der zugleich versicherte, dass keiner der russischen Impfstoffe fatale Nebenwirkungen gezeigt habe – "im Gegensatz zu Astra Zeneca und Biontech".

Schuld des Weltmarkts

Die Bürger interessierten sich vor allem für die rasant gestiegenen Preise in Russland, sei es bei Lebensmitteln, Baumaterialien oder im Urlaub. Schuld daran ist laut Putin der Weltmarkt, obwohl Russland mit seinem Lebensmittelembargo gegen den Westen eigentlich in dem Bereich längst autark sein wollte.

Soziale Probleme, Mängel bei der Infrastruktur und medizinischen Versorgung, bürokratische Hürden und fehlende Kredite für Klein- und Mittelständler kamen zur Sprache. In einigen Fällen versprach Putin den Bittstellern konkrete Hilfe, in anderen jonglierte er gewohnt gekonnt mit Zahlen, um die Fürsorge der Regierung zu demonstrieren.

Rücktritt "zur gegebenen Zeit"

Auch zur im Herbst anstehenden Duma-Wahl wurde Putin befragt. Dabei lobte er zunächst die Arbeit der Duma und rührte dann noch einmal die Werbetrommel für die Kreml-Partei Einiges Russland, die auch "unpopuläre, aber notwendige Gesetze erlassen" habe, um das Land in der Krise zu stärken. "Zu gegebener Zeit" versprach er zudem zurückzutreten und einen Nachfolger zu empfehlen. Dann "werde ich am Ofen sitzen", sagte er zu seinen Zukunftsplänen nach der Präsidentschaft.

Die Lage der außerparlamentarischen Opposition hingegen fand keine Beachtung im vierstündigen Fernsehmarathon. Zum Konflikt mit verschiedenen ausländischen Netzwerken äußerte sich Putin ausweichend, dementierte eine geplante Blockade von Twitter, Youtube und Co, forderte die Unternehmen aber auf, sich in Russland zu registrieren und sich an die russischen Gesetze zu halten, wobei er mögliche Sanktionen lediglich mit dem Kampf gegen Pornografie begründete.

Auch die Außenpolitik war nur Randthema. Sie diente lediglich dazu, sich noch einmal – so in der jüngsten Krise im Schwarzen Meer – gegen den Westen zu profilieren und die Entwicklung in der Ukraine der eigenen Bevölkerung als Negativbeispiel zu demonstrieren. Diese stellte er als fremdgeführt dar, während Russland seine Selbstständigkeit bewahrt habe und wieder ein wichtiger Akteur in der Weltpolitik sei, so Putin. (André Ballin aus Moskau, 30.6.2021)